Ein Leben für Russland und durch Russland: Rainer Maria Rilke

Man kann ihn mit Prag assoziieren – doch diese seine Heimatstadt hat Rilke möglichst gemieden; man kann ihn in Worpswede ansiedeln, wo er seine Frau fand und worüber er ein berühmtes Buch geschrieben hat, ihn mit dem Paris Auguste Rodins identifizieren oder mit Schloss Duino, wo seine Duineser Elegien entstanden. Rilke war rastlos und fand erst in Muzot gegen Ende seines Lebens eine dauerhaft Wohnstätte. Doch eigentlich müsste man seine Heimat in Russland sehen – so hat er es immer wieder getan, und so führt es jetzt das Deutsche Literaturarchiv in Marbach vor.

Leonid Pasternak, Skizze für Ölgemälde Rainer Maria Rilkes. Foto: DLA Marbach

Er muss schon in jungen Jahren eine eindrucksvolle Erscheinung gewesen sein. Erst neun Jahre war der kleine Boris Pasternak alt, als er ihm begegnete, doch sollte er von dieser kurzen Begegnung sein Leben lang zehren und von sich behaupten sein ganzes Werk habe im Zeichen dieses Dichters gestanden. Aber auch Boris‘ Vater, der Maler Leonid Pasternak, muss fasziniert gewesen sein. Er porträtierte Rilke mehrfach, und die Ausstellung zeigt, dass er instinktiv den passenden symbolischen Rahmen dafür fand: Der junge Dichter, in nachdenklicher Pose sitzend, den Blick in eine vage Ferne richtend, sitzt vor dem Kreml, von dem man auch den Ivan Weliki erkennt, den höchsten Kremlturm, dessen Glocke den gerade in Moskau Eingetroffenen zu Ostern wie ein Offenbarung trifft. So erklingt die Glocke denn auch – wenn auch nur aus dem Lautsprecher und nicht so volltönend – in der Ausstellung.

Und so fasziniert, wie die Pasternaks von Rilke waren, war Rilke es von deren Heimat. Sogleich erklärte er Russland zu seiner wahren Heimat, erwog mehrfach, dort seine Existenz weiterzuführen, lernte begeistert Russisch und übersetzte die wesentlichen Texte, vom Igorlied bis zu Dostojewski. Wenn diese Texte bzw. Buchausgaben jetzt in Marbach in den Vitrinen liegen, dann ist das in diesem Fall mehr als sonst in Marbacher Ausstellungen üblich: Diese Relikte stehen als Symbole für eine Begeisterung, die Rilke in jeder Faser getroffen hat, so sehr, dass er auch noch nach seiner Rückkehr nach Deutschland in seinen wechselnden Behausungen russische Ecken einrichtete und große Verblüffung hervorrief, als er in der Künstlerkolonie Worpswede im Russenkittel auftrat.

Nahezu in Personalunion mit Russland war die Frau, die wie kaum eine andere Rilkes Leben geprägt hat: Lou Andreas-Salomé. Ohne diese gebürtige Russin hätte er die Reise nicht unternommen, ohne die intellektuelle Handreichung der vierzehn Jahre älteren Frau, die nicht nur Rilke in ihren Bann zog, sondern auch Nietzsche und Sigmund Freud (beide wohl nur, im Unterschied zu Rilke, platonisch) hätte er sich nicht derart tief mit Russland, seiner Kunst und Literatur auseinandersetzen können.

Und nicht nur die Pasternaks waren hingerissen. Von Rilkes Cornet, jenem Büchlein, das im 1. Weltkrieg im Tornister unzähliger deutscher Soldaten steckte, gibt es zahlreiche Übersetzungen, die erste in die russische Sprache. Dmitri Schostakowitsch wählte zwei Rilketexte für seine Sinfonie Nr. 14, und Alexander Bisk hat sein ganzes Leben lang Rilke übersetzt.

Und dann ist da noch jene merkwürdige, aber deshalb vielleicht umso intensivere Beziehung zwischen Rilke und Marina Zwetajewa, die nur vier Monate währte und nur auf dem Briefpapier stattfand – das nun in Marbach zu bestaunen ist.

Die Nachwirkung Rilkes in Russland war mindestens so intensiv wie die Wirkung des Landes auf ihn. Hier entwickelt er seine Poetik des Dinggedichts, vielleicht aus der Erfahrung der Ikonen heraus, in denen er leere Ovale sah, die erst durch die schöpferische Sehnsucht der Betenden belebt würden, so wie Gott für ihn erst durch den Dichter zur Vollendung gebracht werde. In seinen berühmtesten Gedichtzyklen finden sich Anspielungen auf Russland und seine Mönche, lediglich dem anfangs von ihm verehrten Tolstoi entzog er seine Bewunderung, hielt allerdings an der Behauptung fest, der alte Dichter habe ihm den Hausaltar verehrt, der jetzt in der Ausstellung zu sehen ist.

                                    Klappaltar, Reisesouvenir aus Rilkes Besitz. Foto: DLA Marbach

In seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge wollte er sogar eine Abrechnung mit dem alten Dichter einfügen, die er allerdings später strich. Auch diese „Strichfassung“ gehört zu Rilke und zu dieser Ausstellung, ebenso wie die symbolträchtig zersplitterte Glasscheibe auf einen Foto von Tolstoi aus Rilkes Besitz.

Ohne sein Russlanderlebnis, das macht die Ausstellung plastisch deutlich, wäre Rilkes Leben sicher anders verlaufen, wäre er vermutlich nicht der Dichter geworden, als der er geliebt, verehrt, ja vergöttert wurde. Rilke hatte vor seinen beiden Russlandreisen schon viel veröffentlicht – durchweg war das alles andere als weltliterarisch gültig, nach seinen Russlandreisen erlebte er jeweils einen Schaffensrausch, in dem einige seiner wichtigsten Werke entstanden. Russland hat aus dem begabten Schriftsteller Rilke den Dichter gemacht – ob er der auch geworden wäre, hätte er seine Umsiedlungspläne realisiert, bleibt allerdings zu bezweifeln.

Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke zu Besuch bei Spiridon Droshshin. Foto: DLA Marbach

Allzu sehr hat er die dortige Wirklichkeit idealisiert, hat in einem zweitrangigen, ganz der Natur verbundenen Dichter Droshshin mehr gesehen, als wohl in ihm steckte, hat Maler hoch geschätzt, die das Urteil der Zeit nicht überdauert haben, doch für sein Leben wie für sein Dichtertum war Russland ein Glück, auch die Tatsache, dass es Episode geblieben ist, allerdings eine stark nachwirkende.

Rilke und Russland“, Deutsches Literaturarchiv Marbach bis 6. 8.2017, danach im Strauhof in Zürich und in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern sowie in der Neuen Manege, Moskau. Katalog 296 Seiten, 30 Euro

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert