Verschrieb sich im 19. Jahrhundert ein Künstler der Druckgraphik, gar dem Holzschnitt, verstand er sich wohl eher als zweitrangig, denn dieses Medium galt in erster Linie als Reproduktionsmittel, allenfalls als Illustrationstechnik. Das änderte sich, als mit der Öffnung Japans, das sich jahrhundertelang von der Welt abgeschottet hatte, die feinlinigen ostasiatischen Farbholzschnitte bekannt wurden und als die Künstler zunehmend auf intensiven Ausdruck von Emotionen setzten wie etwa Edvard Munch. Dass sich ein Künstler des Jahrgangs 1868 nahezu vollständig auf den Holzschnitt konzentrierte wie Wilhelm Laage, war freilich dennoch eine Ausnahme, aber für die Nachwelt ein Glück, wie eine Ausstellung im Reutlinger Spendhaus belegt.
Und er ließ sich natürlich von den Strömungen seiner Zeit beeinflussen. So schuf er 1901 den Steg am See, flächig wie so viele japanische Vorbilder, ganz auf wenige Linien beschränkt – eine schwerelose Atmosphäre. Ein Holzschnitt von Utagawa Hiroshige neben diesem Blatt zeigt die Verwandtschaft. Aber auch Félix Vallotton dürfte seine Spuren in Laages Entwicklung hinterlassen haben. Der gebürtige Schweizer bevorzugte kräftige Akzente, indem er große schwarze Flächen neben weiße setzte. In seinem Holzschnitt eines liegenden Mannes von 1905 greift Laage genau diese Kontrastkompositionsweise auf. Und auch die von Paul Gauguin entwickelte Kombination von Holzschnitt und Holzstich, bei dem die Holzplatte mit spitzem Werkzeug bearbeitet wird, findet sich bei Laage.
Insofern war es sinnvoll, dass die Kuratorin der Ausstellung, die Laage-Expertin Claudia Schönjahn, sein Werk durch Arbeiten dieser Künstler ergänzt hat, denn genau diese Gegenüberstellung zeigt, dass Laage es nicht bei der Übernahme solcher Ausdruckstechniken beließ. Stets entwickelte er ganz eigene Ausdrucksformen und Techniken. Wenn er einen Sonnenaufgang gestaltete, dann hieb er geradezu wütend in die Holzplatte ein, sodass nur noch ganz dünne spitze Holzstege stehen blieben. Das Ergebnis ist eine Lichtexplosion.
Laage war ein Experimentator. Nie blieb er bei dem einmal Erreichten stehen. So finden sich bei ihm immer wieder weitere Bearbeitungen desselben Motivs, bei Porträts umgab er das Gesicht der Personen mal mit einer Art gedrucktem Holzrahmen, dann wieder ließ er diese Umrahmung weg – das Ergebnis sind zwei völlig unterschiedliche Bilder. Er begnügte sich auch nicht mit dem üblichen Format der Holzschnittplatten, sondern druckte mit ganzen Türfüllungen. Damit nahm er um Jahrzehnte vorweg, was Holzschneider wie HAP Grieshaber oder Felix Droese erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten.
Abend am Meer, 1907
Meisterhaft arbeitete er mit großen Flächen. Bei seinem Holzschnitt Abend am Meer schnitzte er aus dem ersten „grundierenden“ Druckstock für den nachtblauen Hintergrund lediglich einen unregelmäßigen Streifen heraus sowie am oberen Rand einige feine Linien. Beim fertigen Holzschnitt entpuppte sich das als sandfarbener Berg und kleine Wölkchen am Himmel. Davor setzte er dann in einem zweiten Arbeitsgang ein Brückengeländer, die schattenhafte Figur einer Frau und Dampf, der aus dem Kamin eines Schiffs gen Himmel quillt. Das ist perfekte Technik mit dem Ziel, eine vollendete Nachtlandschaftzu gestalten.
Denn das war Laages eigentliches Ziel. Seine Arbeiten faszinieren durch ihren Ausdruck, einen Ausdruck, der nicht selten verstörend ist. Laages Weltsicht dürfte nicht unbedingt optimistisch gewesen sein – kein Wunder angesichts seiner Biographie. Der ersehnte Erfolg blieb aus, der Sohn war durch eine Gehirnhautentzündung früh behindert. Laages Bildwelten sind eher in einem Schattenreich angesiedelt.
Dorfbrand, 1898
Sein Dorfbrand zeigt das Wüten der Flammen, die wie von geheimnisvollen fernen Kräften angefacht zu sein scheinen. Ein großer Schrei liegt über dem Ganzen, an Edvard Munchs berühmtes Bild erinnernd, aber doch ganz eigenständig. Seine Darstellung der Nacht von 1898 begnügt sich nicht mit einer atmosphärischen Darstellung der dunklen Tageszeit, sondern beschwört Angst und Beklemmung herauf, wenn wie auf einem Misthaufen drei Fratzen aufgehäuft liegen. Man erhält eine Ahnung, was es für den kleinen Wilhelm Laage bedeutete, wenn er sich selbst als „Spökenkieker“, als Mensch mit dem zweiten Gesicht, bezeichnete.
Vielleicht findet sich hier ein Nachhall seiner Kindheit. Der Vater war Totengräber, und es finden sich erstaunlich viele Darstellungen des Lebensendes in Laages Werk, bei denen nicht selten Gevatter Tod mit von der Partie ist. Das Gesicht seines kranken Sohnes ist eine einzige Raserei in wilden Linien: Hier ist das Gesicht Form gewordene innere Befindlichkeit.
Dass er diese Ausdruckstiefe in den Landschaften und Stillleben nicht erreichte, versteht sich aus der Motivik, doch sind seine Landschaften nicht selten menschenleer, wirken oft öd, abweisend. Vor allem zeigen sie wie auch die Stillleben, dass Laage ein genuiner Holzschneider war, auch wenn er ein gutes Gespür für Farbkompositionen hatte und mit dem Pinsel perfekt umgehen konnte. Sein Ölbild mit Hyazinthen aber wirkt vergleichsweise harmlos, während ein Holzschnitt mit denselben Blüten ein Wunderwerk an handwerklicher Detailarbeit ist.
„Wilhelm Laage … ’seine Zeit wird kommen’“, Kunstmuseum Reutlingen/Spendhaus. Katalog 157 Seiten, 28 Euro