Ein Haus der Stille und der Kunst: Die Gratianus-Stiftung Reutlingen

Mit vollem Namen hieß er Flavius Gratianus und war von 375 bis 383 Kaiser im Westen des römischen Reiches. Er zeichnete sich vor allem durch die Förderung der Künste aus – aber nicht das war der Grund, weshalb die Malerin Gabriele Straub und ihr Mann Hanns-Gerhard Rösch ihre Kunstsammlung unter seinem Namen in eine Stiftung umwandelten. Die Villa, in der sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, befindet sich eben in der Gratianus-Straße in Reutlingen. Die Stiftung entstand kurz nach der Jahrtausendwende – und wer sie besucht, taucht ein in eine Welt der Stille, der Meditation, der Ästhetik.

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Raimer Jochims. „Lascaux“. 1989

Auf den ersten Blick glaubt man, einen umfassenden Überblick über die Kunst des 20. Jahrhunderts vor sich zu haben: Henri Matisse, Giorgio Morandi, Hans Arp, Fritz Winter, Johannes Geccelli, Gerhard Hoehme, Rudolf Schoofs; man könnte meinen, die Malerin Gabriele Straub und ihr Mann Hanns-Gerhard Rösch hätten seit Jahrzehnten einen systematischen Überblick über die Kunst des 20. Jahrhunderts gesammelt – und doch ist es eine höchst subjektive Sammlung. So gibt es ausgesprochene Künstler-Schwerpunkte: Immer wieder stößt man auf Steinplastiken von Karl Prantl – Arbeiten, die wie Fundstücke aus fernen Zeiten wirken und zugleich Meisterbeispiele abstrakter Kunst unserer Tage sind. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Farbkompositionen von Raimer Jochims: Er zwängt seine Farbverläufe nicht in rechteckige oder quadratische Formen, sondern bricht aus Spanplatten unregelmäßige Gebilde heraus, auf denen er dann regelrechte Farbereignisse gestaltet, fast hat man den Eindruck, Farbereignisse wie von selbst entstehen lässt.

Ganz anders Johannes Geccelli, dessen Bild „Blauer Mittespalt“ gleich neben dem Gemälde „Lascaux“ seines Frankfurter Kollegen Jochims hängt. Er baut seine Bilder aus senkrechten Farbstreifen auf, sodass sich dem Auge des Betrachters ein flirrendes Farbgeschehen darbietet, in dessen Mitte ein heller blauer Spalt auf den Ursprung solcher Gemälde hindeutet: Es ist die menschliche Figur in extrem abstrahierter Gestalt.

Beiden Künstlern gemeinsam ist die Faszination durch die Farbe – wie auch bei der Malerin Gabriele Straub. Gabriele-Straub-Schnee-2009-Eitempara-auf-Leinwand-130x150cm (900x778)

Gabriele Straub. „Schnee“. 2009

Aus zahlreichen Farbschichten entstehen bei ihr nicht selten Bilder, auf denen die Farbe entmaterialisiert zu sein scheint, alles ist im Fließen, wirkt schwerelos. So ist es kein Zufall, dass Josef Albers einen zentralen Platz in der Ausstellung einnimmt, schließlich hat Albers in seiner Serie über das Quadrat geradezu systematisch das Wirken von Farbe untersucht.

Diese Konzentration auf das Phänomen Farbe hat dazu geführt, dass die Sammlung vorwiegend abstrakte Malerei enthält – vor allem aber eine Malerei der Stille.

Wesentlichen Anteil an dieser Atmosphäre der Stille und Reflexion hat die Präsentation der Arbeiten: es gibt keine Schilder mit den Künstlernamen, die Bilder haben Luft zu atmen.

Mit der Villa, in der diese Sammlung eine Heimat gefunden hat, schreibt Hanns-Gerhard Rösch gewissermaßen seine Familiengeschichte weiter. Es handelt sich um eine Jugendstilvilla, die 1909 gebaut wurde, von seinem Großvater nach dem 1. Weltkrieg gekauft wurde, und in der die Familie bis nach dem 2. Weltkrieg gelebt hat. Rösch hat das das Haus als Kind erlebt und vor einigen Jahren erworben, wieder in den Besitz der Familie zurückgeholt.

Aber die Sammlung enthält nicht nur Kunst des 20. Jahrhunderts, sie hat einen weiteren Schwerpunkt in der außereuropäischen Kunst früherer Jahrhunderte und Jahrtausende. Gruene-Tara-China-sino-tibetisch-1403-1424-feuervergoldete-verschlossene-Bronze-18x11.5x11cm (588x900)

Grüne Tara, sino-tibetisch. 1403-24

So finden sich moderne abstrakte Gemälde neben Buddhafiguren aus dem asiatischen Raum und Werke aus der Maya-Kultur. Da tun sich gelegentlich überraschende Verwandtschaften auf. In einer Vitrine liegen zwei abstrakte Steinarbeiten. Sie könnten aus der Hand eines abstrakt arbeitenden Bildhauers unserer Tage stammen – genauso gut aber auch aus einer fernen, uns fremden Kultur. Die eine stammt in der Tat aus dem China des 3. Jahrhunderts v. Chr., die zweite schuf Karl Prantl 1985. Zusammen mit den abstrakten Arbeiten unserer Zeit schaffen diese Arbeiten aus anderen Kulturkreisen eine Atmosphäre der Harmonie, der Meditation, der Stille. Hier gibt es nur die Kunst – und die Möglichkeit, sich in sie zu versenken.

Anziehungskraft Farbe – Geist und Erinnerung“. Gratianusstiftung; Reutlingen, Gratianusstraße 11.

 

Ein Gedanke zu „Ein Haus der Stille und der Kunst: Die Gratianus-Stiftung Reutlingen

  1. Rilling, Anita

    Lieber Herr Zerbst,
    Danke für die Anregung. Das Haus der Stille und der Kunst werde ich hoffentlich bald besuchen können.
    Mit freundlichen Grüßen auch an Ihre Frau
    Anita Rilling

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