Zu lang, befand das Darmstädter Opernpublikum; die Theaterleitung reagierte prompt und kürzte Rossinis „Barbier von Sevilla“, obwohl der mit knapp drei Stunden Spieldauer ohnehin nicht zu den längsten Opern zählt. Nicht so das Schauspiel Stuttgart unter Intendant Armin Petras. Er und seine Regie führenden Kollegen sammeln offenbar Einfälle zu ihren Inszenierungen, bis diese schließlich vier oder fünf Stunden dauern, wenn nicht gar mehr.
Muss es einem Intendanten zu denken geben, wenn treue Theaterabonnenten bei Premieren besorgt den Blick auf die Anzeigentafel werfen, auf der die Aufführungsdauer angegeben ist? Wenn ihnen bisweilen gar angesichts der zu erwartenden Länge der Satz „Die spinnen doch“ entfährt? Muss es nicht, denn er bekommt es ja nicht zur Kenntnis. Ganz anders, wenn sich im Laufe einer solchen Premiere die Reihen der Besucher nach der Pause deutlich gelichtet haben, denn er sitzt schließlich selber im Saal oder sollte es zumindest tun. Selbst wohlwollende Kritiker gaben in ihrem letztlich positiven Urteil über eine Inszenierung von Frank Castorf zu, dass nach der Pause allenfalls noch die Hälfte der Besucher das Ereignis bis zum Ende mitverfolgt hätten.
Das Schauspiel Stuttgart unter diesem Intendanten ist nicht ein Theater für altehrwürdige Dramatiker und ihre Stücke. Die hatten es schon unter Petras‘ Vorgänger Hasko Weber gelegentlich schwer, dort wurden sie manchmal geradezu dramatisch, sprich drastisch, gekürzt. Unter Petras werden sie zerdehnt. Das Original gilt nichts, desgleichen die Vorstellung eines Sprachkunstwerks. Der Schauspieltext wird zusammengestrichen, dafür aber durch Zutaten im Jargon unserer Tage ergänzt. So etwas kann man als Aktualisierung verstehen, man kann es aber auch als Zerstörung der Klassiker werten. So fiel es selbst jenen, zugegeben wenigen, Zuschauern, die Shakespeares „Richard III.“ vor der Premiere am Schauspiel Stuttgart gelesen hatten, während Robert Borgmanns Stuttgarter Inszenierung schwer, die Orientierung zu behalten. Frauen schlüpften in Männerrollen, allerdings nur passagenweise, neue Sätze mischten sich unter Shakespeares poetische und dramatische Formulierungen. Mal meinte man, einer Tragödie beizuwohnen, dann wieder wähnte man sich in einer Komödie oder Klamotte. Mal hätte das Stück heißen können: „Der König redet irr“, mal hätte es unter dem Titel stehen können: „Die Toten kehren zurück“, denn die längst von Richard aus der Welt geschafften Edward und Clarence traten immer wieder mit niedlichen kleinen Totenköpfen in den Händen auf die Bühne. In diesem Stück gibt es viele Tote, bei Borgmann kehrten sie jedoch hin und wieder auf die Bühne zurück, nur einer war unrettbar tot: William Shakespeare.
Dabei hatte die Intendanz vielversprechend begonnen, nicht zuletzt dank einiger Schauspieler, die Petras nach Stuttgart gebracht hatte. Fritzi Haberlandt gelang in „Herbstsonate“ eine faszinierende Alternative zu Liv Ullmann in Ingmar Bergmans Film, Peter Kurth brillierte als Tschechows Onkel Wanja, und Edgar Selge reizte das ganze männliche Rollenspektrum in Schnitzlers „Reigen“ komödiantisch aus – um nur einige zu nennen. Doch sieht man diese Künstler derzeit lediglich in den älteren Produktionen, in den neueren fehlen sie. Möge es nicht ein Abschied auf Dauer sein. Doch auch die übrigen Schauspieler könnten faszinierendes Theater spielen, wenn die Inszenierungen ihnen Raum dafür ließen. Die aber sind nicht selten eine Ansammlung von Gags. Das Schauspiel Stuttgart unter Petras ist eine Spielwiese für Regisseure. Der legendäre Hans Hilpert meinte einmal, Einfälle seien Läuse der Gedanken; habe man einen, solle man ihn sofort weglassen. In Stuttgart werden offenbar Einfälle gesammelt und gehortet, sobald sie auf der Probenbühne auftauchen. Da vollführt dann in einem Stück nach einem Roman von Wilhelm Raabe, das Petras eigentlich und mit gutem Grund als frühe Kritik am Kapitalismus inszenierte, ein Schauspieler mit überdimensionalem Fischleib einen Minuten währenden Tanz. Ein anderer Schauspieler fällt aus der Rolle und moniert, er müsse immer falsche Rollen spielen. Dramaturgische Stringenz fehlt in diesem Theater weitgehend. Als Petras die Erzählung „Das kalte Herz“ von Wilhelm Hauff auf die Bühne brachte, lud er eine Volkstanzgruppe ein, nur weil die Handlung im Schwarzwald spielte. Die Truppe tanzte dann zehn Minuten mit Beteiligung einiger Zuschauer – und sprengte jede dramatische Handlung.
Dramatik scheint zudem eine Sache der Lautstärke zu sein. Ohrenbetäubende Musik geht einher mit outriertem Sprechen. Sprachkultur scheint sich in Stuttgart unterdessen nicht selten in Dezibel zu messen, je mehr, desto besser.
Der Verwaltungsrat der Württembergischen Staatstheater hat vorzeitig den Vertrag dieses Intendanten verlängert. 2009 hatte der Verwaltungsrat den Vertrag des damaligen Opernintendanten Puhlmann nicht verlängert – unter anderem wurde ihm vorgeworfen, er habe an dem von ihm geleiteten Opernhaus seine Ehefrau einmal inszenieren lassen. Petras führt allein in dieser Spielzeit drei von ihm selbst unter dem Pseudonym Kater geschriebene Stücke an dem von ihm geführten Theater auf, in eigener Regie! Ein weiterer Vorwurf gegen Puhlmann lautete, man sei mit seiner Qualität als Intendant nicht zufrieden. Zumindest aber blieb bei ihm das Publikum bis zum Ende der Vorstellungen – und Puhlmann war stets präsent. Petras glänzt nicht selten durch Abwesenheit, weil er an anderen Häusern Regie führt.
In Anlehnung an einen alten Kalauer ließe sich fragen: Was ist, wenn Petras Theater macht, und keiner geht hin? Dann wäre der Aufsichtsrat gefragt, und sei es auch nur, um mit seinen Mitgliedern die Zuschauerreihen wenigstens notdürftig zu füllen.
Ich stimme Ihnen voll zu! In Zukunft sollten vor solchen Vorstellungen Pampers ausgegeben werden.