Über zweihundert Jahre lang hatte sich Japan von der Außenwelt abgeschottet, 1853 schließlich erzwangen die Amerikaner die Öffnung und veränderten indirekt die Kunst in good old Europe. Denn in großer Zahl gelangten japanische Holzschnitte nach England und Frankreich, erst als Verpackungsmaterial für Tee, alsbald aber auch als eigenwertiger Handelsartikel: Sie wurden der letzte Schrei. Ein regelrechter Kunsthandel entwickelte sich – und hinterließ seine Spuren in der europäischen Kunst, insbesondere der französischen: vor allem lösten sich die Konturen und Formen zunehmend in Licht- und Farbeindrücke auf. Aber natürlich gab es auch Kunsteinflüsse von West nach Ost, wie jetzt eine Ausstellung in der Galerie Schlichtenmaier in Stuttgart mit Werken von Xianwei Zhu zeigt.
Dass dieser Maler in der Tradition der jahrhundertealten großen chinesischen Landschaftsmalerei steht, ist unübersehbar: Die Bilder sind nicht selten schmal und sehr hoch, bevorzugte Motive sind Berge und Wasser, meist in Form von Seen, weniger in Gestalt von Bächen und Flüssen, wie sie die Tradition des Shan Shui bevorzugte. Vor allem sind seine Berge wie in dieser Tradition nicht selten in Nebel gehüllt, sie scheinen sich aufzulösen, an Substanz zu verlieren und ätherisch zu werden. Und wie in der alten Maltradition, in der es keine Zentralperspektive gibt, scheinen auch die Bildräume von Xianwei Zhu zu schweben, das Auge findet selten Halt, der Blick beginnt zu mäandern. Statt dass diese Bilder einen Weg durch die Landschaft vorgeben, scheinen sie weglos, richtungslos, der Geist beginnt mit dem Auge zu schweben, sich zu verlieren.
Xianwei Zhus Malerei ist aber kein Eintauchen in die alte Tradition, schon gar keine Repetition, sie ist bei aller Verhaftung in der Tradition hochmoderne Malerei. Xianwei Zhu greift die Kunst der Andeutung, die in der alten Tradition bereits zur Meisterschaft gediehen war, auf und überführt sie in ihr modernes Extrem. Was auf dem Bild Die Stille rechts unten wie eine Gruppe von Büschen wirkt, ist nichts als eine Verdichtung von bläulich-grünlichen Pinselstrichen, was links oben wie ein Gebirgsmassiv in die Höhe zu ragen scheint, besteht aus nichts als einer Schichtung verschiedener Pinselstriche. Xianwei Zhu ist ein Meister in der Farbnuancierung. Den Eindruck materieller Substanz seiner „Felsen“ erweckt er nicht durch den Pinselstrich, sondern durch das Miteinander, Ineinander und Übereinander unterschiedlicher Farbschichten. Farben, nicht die Struktur des Pinselstrichs machen das Wesen seiner Malerei aus. Auf diese Weise erweckt er den Eindruck fester Körper wie Fels oder Baum und führt diese Naturelemente über in etwas rein Atmosphärisches. Kein Wunder, dass seine Bilder in den Titeln weniger an Naturphänomene erinnern als an Stimmungen: Sphären, Blaue Stunde, Die Stille.
Doch neben diesen ostasiatischen Aspekten seiner Malerei findet sich auch eine Gegenwelt. Während die traditionellen ostasiatischen Landschaften meist menschenleer sind, finden sich auf Xianwei Zhus Bildern immer wieder im Vordergrund Menschen, kleine Figuren, die meist genau das ansehen, was auch wir, die Betrachter der Bilder ansehen: die Landschaft. Es sind Stellvertreterfiguren der Betrachter – und damit greift Xianwei Zhu dezidiert auf einen Meister der europäischen Landschaftsmalerei zurück, der zwar eindeutig in der Romantik beheimatet ist, dessen Bildern aber etwas so Modernes anhaftet, dass er sogar heute noch wie ein Zeitgenosse von uns betrachtet werden kann: Caspar David Friedrich. Xianwei Zhu scheint sich vor allem in letzter Zeit auf diese europäische Tradition zu besinnen, er hat ja nicht nur in seiner chinesischen Heimat Malerei studiert, sondern auch in Europa, in Stuttgart. Morgen heißt ein Bild von 2020, und in Klammer: Hommage an C.D.F.. Eine weitere Hommage ist das Bild Wanderer am Meer. Bild wie Titel hätten von C.D. Friedrich stammen können.
So hat Xianwei Zhu eine Synthese aus der Bildtradition seiner Heimat und der europäischen Romantik geschaffen, eine Art west-östlichen Diwan, und doch zugleich mit diesen beiden Traditionen etwas ganz Eigenes entstehen lassen: eine Bildsymbolik, die sich ganz aus dem Farbgeschehen heraus ergibt: Symbole des Ungewissen, des Ziellosen und daher des immerwährend Suchenden. Alles im Fluss heißt bezeichnenderweise ein Bild. Diese Bilder vermitteln keine Gewissheit, sie zwingen uns zu ständig neuem Fragen, Hinterfragen, und bieten dem Auge doch immer wieder auch Zufluchtsräume.
Themen wie Stille, Zeitlosigkeit, Erinnern werfen den Betrachter ganz auf sich selbst zurück. In diese Malerei mit dem Auge einzutauchen ist zugleich eine Suche nach dem eigenen Ich, das sich dem Denken immer wieder zu entziehen scheint. Am deutlichsten wird einem das vor dem Bild Ursprung, dem jede feste Substanz fehlt, das nur ein Wogen von Farben ist, dem Auge immer neue Aspekte bietet und sich jeder Festlegung entzieht.
„Xianwei Zhu. In a Landscape“. Galerie Schlichtenmaier, Stuttgart, bis 28.8.2021