Seit lange Handlungsballette eher die Ausnahme sind, haben es Ballettdirektoren nicht leicht, sinnvolle Stückzusammenstellungen auf die Bühne zu bringen. Dem langjährigen Stuttgarter Ballettintendanten Reid Anderson ist das in zunehmendem Maße gelungen. So fügten sich einmal höchst unterschiedliche Choreographien zu einem in sich geschlossenen Abend voller Nachtvisionen zusammen. Sein Nachfolger Tamas Detrich führt diese Tradition fort, wählte bisher für seine Abende aber eher vordergründige Themen, was dennoch der Wirkung keinen Abbruch tun muss. Für Shades of White vereinte er moderne Stücke mit dem alten Glanz von weißem Tütü und Spitzentanz, für seinen neuen Abend wählte er das Epitheton Atem-Beraubend.
Itzik Galili, Hikarizatto. Tänzer: Jason Reilly, Alicia Amatriain © Stuttgarter Ballett
Und was Itzik Galili vor fünfzehn Jahren für das Stuttgarter Ballett schuf, ist atemberaubend in geradezu artistischem Sinn. Was er für sein von einem Tokiobesuch inspiriertes Ballett Hikarizatto seinen TänzerInnen an virtuosen Bewegungsfolgen und Interaktionsmustern abverlangt, grenzt ans Aberwitzige, dabei verzichtet er weitgehend auf sensationelle Sprünge. Das meiste spielt sich am Boden ab, ohne im geringsten bodenständig zu sein. Das ist abstraktes Ballett in Perfektion, und doch ist es nicht ohne thematischen Inhalt. Galili bringt eine Art Experimentalanordnung auf die Bühne. Lichtkegel von oben zeichnen auf dem Boden helle Quadrate, Planquadraten ähnelnd, und in ihnen findet die tänzerische Aktion statt, mal von einzelnen Tänzern ausgeführt, meist aber in kleinen Gruppen. Als Ensemble treten die Tänzer nicht auf.
In den Kleingruppen verfolgt er Bewegungsmuster minutiös. So handelt sein Ballett zum ersten von Symmetrie und Gleichklang. Die Dreiergruppen führen dieselben Bewegungen aus – mit oft einer Ausnahme, und so kippt die Symmetrie stets auch um in Asymmetrie.
Es ist aber auch ein Ballett zum Thema Gleichklang und Variation, denn haben eben noch drei Tänzergruppen dieselben Bewegungen ausgeführt, sind es kurze Zeit später nur noch zwei. So findet hier ständig Veränderung statt. Auch die Sehperspektive ist ein Thema. So treten einmal vier Paare hinten an der Bühne in einer Reihe verteilt auf, sind also frontal sichtbar. An der Seite stehen vier Paare hintereinander. Alle tanzen dieselben Figuren, aber welch ein Unterschied in der optischen Wirkung!
Zudem geht es um den Einzelnen und die anderen, um Individualität und Aufgabe derselben. Die Tänzer einer Gruppe verschmelzen geradezu miteinander. Oft kann man kaum ausmachen, wem dieses Bein gehört oder wem jener Arm, und Galili zeigt, dass Aufgabe des Ichs, der Individualität, nicht Verlust bedeuten muss, sondern auch Zugewinn sein kann.
So entstand ein zwanzigminütiges Werk aus einem Guss, in dem nicht eine Sekunde zu viel ist und keine zu wenig und für das die reine Schlagzeugmusik des Duos Percossa von einem Schlagzeugensemble des Staatsorchesters faszinierend vorgetragen wurde.
Akram Khan, Kaash. Tänzer: Diana Ionescu, Friedemann Vogel© Stuttgarter Ballett
Nahezu reines Schlagzeug auch bei Akram Khan, und was er 2002 für seine eigene Compagnie in England kreierte, wirkt gleichermaßen abstrakt: Kaash (was so viel wie „wenn nur“ bedeutet). In schwarze, lange, rockähnliche Gewänder gekleidet wirbeln die Akteure über die Bühne, verharren wieder, lassen immer wieder nur ihre Hände spielen, ihre Arme, selbst einzelne Finger sind von Bedeutung. Khan ließ sich vom indischen Kathak inspirieren, weshalb auch immer wieder religiös zu deutende Posen auftauchen, und das für unsere Augen Exotische ist unverkennbar, geht jedoch stets in das über, was wir vom westlichen modernen Ballett kennen – eine spannende Fusion unterschiedlicher Traditionen.
Eine zweite Inspirationsquelle freilich ist für den Betrachter weniger leicht auszumachen – die moderne Physik. Immerhin lässt sich das Bühnenbild, das kein Geringerer als der indisch-britische Bildhauer Anish Kapoor für diese Arbeit geschaffen hat, mit naturwissenschaftlichen Begriffen deuten. Kapoor beschränkte sich auf ein Bild im Hintergrund – ein schwarzes Rechteck in goldenem Rahmen, umgeben von einem Umfeld, das mal unbeleuchtet bleibt, mal in magisch anziehendem Rot aufglüht. Das lässt sich als „schwarzes Loch“ deuten, das ja eine derart starke Gravitation hat, dass nichts aus diesem Gebilde entweichen kann, ein Loch von großer Anziehungkraft. Khan deutet es in übertragenem Sinn. So steht mit dem Rücken zum Zuschauerraum ein Tänzer sinnend vor diesem Bild noch während das Saallicht an ist und die Zuschauer den Raum füllen. Dann bewegt er sich, sieht anderen Tänzern zu, die sich in Kleingruppen mit oft vehementer Energie über die Bühne und durch den Raum bewegen. Es sind Szenen gegenseitiger Anziehungskraft und Abstoßung – Khan arbeitet mit allgemeinen symbolhaften Bezügen. Freilich bleiben sie für den Zuschauer oft reiner Tanz, faszinierend, aber gelegentlich auch am Rand des Leerlaufs. Am Ende ziehen sich die Akteure zurück, es bleibt das Bild, nunmehr von mehreren Personen fasziniert betrachtet – ein Werk um Religion, Mythologie und Ausdruckskraft der Körper.
Johan Inger, Out of Breath. Tänzer: Jason Reilly, Agnes Su © Stuttgarter Ballett
Sehr viel konkreter wirken die Themen bei Johan Ingers Out of Breath. Er kam auf die Idee zu diesem Ballett durch die sehr komplizierte Geburt seiner Tochter, und so sehen wir denn zu Beginn ein Mädchen mit staksenden Schritten die Bühne betreten wie ein Kleinkind die Welt. Und Assoziationen zum Thema Kindheit ziehen sich durch das ganze Ballett. Das Mädchen, ergänzt durch zwei weitere Tänzerinnen, sowie drei „Knaben“ werden älter, spielen miteinander, treten in Freundschaften ein, begegnen einander aber auch mit Animosität. Inger erfand Konstellationen und Figurationen, die unablässig Fragen aufstellen, Fragen nach Zugehörigkeit, nach Nähe, aber auch nach Ausgestoßensein und Distanz.
Eine leicht oval gebogene Mauer dient da sowohl als Ort der plötzlichen unerwarteten Begegnung wie auch als Medium der Trennung. Sie ist Gegenstand der Herausforderung, wenn einige Tänzer über diese hohe Mauer klettern, und Objekt des Scheiterns, wenn es einem von ihnen nicht gelingt.
Inger macht deutlich, wie nah Zuneigung und Ablehnung beieinander sein können, wie leicht heiteres Spiel umschlagen kann in Aggressivität. Das alles wird im Tanz zunehmend virtuoser und findet seinen Höhepunkt in einer Art Agoniezittern, aus dem die Tänzerin lediglich erlöst wird durch die schützende Umarmung durch einen Partner. Das alles changiert zwischen konkreter Andeutung und vager Rätselhaftigkeit. Inger macht deutlich, dass Tanz eben nicht eine so eindeutige Sprache ist wie die aus Wörtern. Das ist atemberaubend in menschlich-inhaltlichen Dimensionen.
So ist ein Abend entstanden, an dem das Titelwort in vielerlei Richtung interpretiert ist: mal philosophisch aus der Sicht des menschlichen Lebens, mal abstrakt körperlich, und der mit der in sich schlüssigen und perfekt geschlossenen Arbeit von Galili schon zu Beginn einen faszinierenden Höhepunkt hat.