Die Welt als Computertraum: Prokofjews Die Liebe zu drei Orangen an der Staatsoper Stuttgart

Soll das Theater das Leben widerspiegeln oder soll es eine Sphäre sein, die dem realen Leben enthoben ist – so lautete die Streitfrage für die russischen Bühnen um 1900. Auf der einen Seite plädierte Konstantin Stanislawski für einen Psychorealismus und eine möglichst lückenlose Identifizierung des Schauspielers mit seiner Rolle, auf der anderen Seite sah sein Schüler Wsewolod Meyerhold im Theater eine Kunstwirklichkeit aus den Elementen Maske, Geste, Bewegung und Intrige. Daher war es kein Wunder, dass er für die Bühne ein Märchenspiel von Carlo Gozzi neu bearbeitete, jenem venezianischen Dramatiker, der für ein Theater der Fantasie und Märchenhaftigkeit eintrat: Die Liebe zu den drei Orangen. Sergej Prokofjew machte daraus eine Oper und griff in seiner Musik alle theoretischen Positionen Meyerholds auf. Für die Staatsoper Stuttgart hat der Filmregisseur Axel Ranisch diese „Blüte des artistischen Wesens“ (Opernkritiker Oscar Bie 1927) in moderner Ästhetik inszeniert, die in neuer Übersetzung einen Artikel verloren hat: Die Liebe zu drei Orangen.

Carole Wilson (Fata Morgana), Michael Ebbecke (Celio), Mitglieder des Staatsopernchores und der Statisterie der Staatsoper Stuttgart. Foto: Matthias Baus

Wenn ein Prinz auf einen Bann hin sich in drei Orangen verliebt, dann geht es nicht mit rechten Dingen zu, dann ist Zauberhand im Spiel, böse Zauberhand. Sie gehört in dieser Oper der Hexe Fata Morgana, und entsprechend schillernd ist sie in Axel Ranischs Inszenierung auch gekleidet: in grünlich glänzenden Glitzerstoff. Den guten Zauberpart übernimmt der Magier Celio, hager, hochgewachsen, ganz in Schwarz. Gemeinsam spielen sie am Kartentisch um die Vormacht über die Welt. Bei Axel Ranisch freilich fehlt der Tisch, es fehlen sogar die Karten – und doch sind sie da. Mit magisch anmutenden Gesten zaubern die beiden einen Kartenwirbel in die Luft – eine virtuelle Welt, zweier Zauberer würdig. Alles in dieser Inszenierung ist virtuell. Ranisch bettet das ganze Geschehen in die Ästhetik eines Computerspiels – nicht eines aus unseren Tagen, bei dem die Illusion technisch perfekt ist, sondern aus den 90er Jahren, als die Szenerie noch deutlich künstlicher war und man sah, dass sich diese Bildwelt aus Pixeln zusammensetzte.

Das wirkt auf den ersten Blick wie ein lustiger Gag, doch Ranischs Inszenierung steckt voller überraschender Logik. Denn genau genommen ist Prokofjews Oper ein Stück über Einmischungen. Die beiden Zauberer mischen sich in die Welt des Prinzen ein, und im Prolog zur Oper streiten sich Gruppen des „Publikums“ (gemimt durch den Chor) darüber, ob der Bühne Komödien oder Tragödien gemäß seien. Es setzen sich schließlich die Sonderlinge durch und bringen Die Liebe zu drei Orangen zur Aufführung.


Elmar Gilbertsson (Prinz), Daniel Kluge (Truffaldino), Mitglieder des Staatsopernchors Stuttgart
Foto: Matthias Baus

So sitzen sie denn bei Ranisch die ganze Zeit über am Rand der Bühne und überwachen das Geschehen, greifen in die Handlung ein, wenn sie der Meinung sind, hier laufe etwas schief, oder werden auch einmal von einer Figur um Hilfe angegangen.

Und was ist ein Computerspiel anderes als ein Spiel der Einmischungen, in dem der am Joystick sitzende Spieler ein fiktives Spielgeschehen manipuliert oder selbst Teil der Handlung wird. Ranisch hatte den glänzenden Einfall, diesen Part per Video einzublenden, virtuell also, wenn auch mit einem „realen“ Jungen in Alltagskleidung. Er mutiert zum Weltbeherrscher Farfarello, denn er kann mit einem Knopfdruck über Wohl und Wehe entscheiden. Bei Prokofjew wirbelt dieser Teufel auf der Bühne mit seiner Puste Figuren durcheinander, bei Ranisch bläht der Junge am Computer die Wangen, bläst – und die Figuren auf der Bühne stolpern über sich selbst: In dieser Inszenierung gibt es keine Grenzen für Zeit und Raum, Meyerhold hätte seine Freude daran gehabt, und wenn Ranisch seinen Farfarello Serjoscha nennt, also kleiner Sergej, fügt er den Spielebenen eine weitere hinzu, indem er den Komponisten mit ins Boot holt, der sich mit seiner Bearbeitung von Meyerholds Bearbeitung seinerseits in Gozzis Stück eingemischt hat.

Es gelang Ranisch zwar nicht, die unterschiedlichen Spielinstanzen deutlich voneinander abzuheben – die Magier befinden sich auf derselben Ebene wie der Prinz und seine Liebe zu den in Orangen verwandelten Prinzessinnen, und auch die Vertreter des „Publikums“ sind Bühnenfiguren, doch er entwickelt ein Spiel mit Fiktion und Fantasie, in dem jedes Detail ineinandergreift. So kann der Magier zu Beginn des zweiten Aktes erst einmal mit beschwörenden Handgesten den Bühnenvorhang dazu veranlassen, sich zu heben, zu senken und wieder zu heben – wie von Zauberhand.

Ranischs Inszenierung greift das auf, was in der Musik vor sich geht: Prokofjew hat für nahezu jede Sekunde neue Ausdrucksformen entwickelt. Hier jagt jede neue Stimmung die nächste, Prokofjew spielt mit Emotionen wie Apathie, Liebe oder Feindseligkeit ebenso wie mit Zitaten aus der Musikgeschichte bis hin zum Walkürenritt. Alejo Pérez arbeitet das mit dem Staatsorchester fulminant heraus; da wird geächzt, gelitten, aber auch gelacht. Stimmlich brillant Michael Ebbecke als Magier – ein wenig elegisch, wenn Fata Morgana ihm einen Schritt voraus ist, herrisch, wenn er Farfarello zur Rede stellt. Daniel Kluge singt mit lockerem Spieltenor den Truffaldino, Esther Dierkes gelingt das Jungmädchenhafte der in eine Orange verwandelten Prinzessin. „Held“ des Abends, nicht nur von der Handlung her: Elmar Gilbertsson, der den Prinzen mit lyrischem Tenor charakterisiert, aber auch zu metallischen Spitzen fähig ist, eine geschmeidige, klangschöne Stimmerscheinung. Allein wie er, der das Lachen verlernt hat, dann doch aus Schadenfreude zum Gelächter findet und musikalisch perfekt in jeder Note das glucksende, nicht aufhören wollende Lachen stimmlich realisiert, ist ein Kabinettstück.

Ranisch zeigt, dass auf der Bühne alles möglich ist, nichts an Grenzen stoßen kann, weil in einer virtuellen Welt, und das ist die des Märchens, nichts unmöglich ist – und dass diese Welt doch auch nicht ohne Gefahren für das reale Leben ist, denn der Junge am Computer, der meint, alles mit dem Joystick beherrschen zu können, wird unversehens selbst in das magische Geschehen einbezogen, und am Ende finden sich die flüchtenden Bösen des Stückes in seiner privaten Welt wieder, in seinem Computerzimmer. So gelangt Ranisch sogar zu einer Botschaft – einer ganz unaufdringlichen, versteht sich, fast schon ein wenig virtuell und pixelhaft holzschnitthaft, aber brillant.

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