Der Fotoapparat sowie in letzter Zeit dank besserer Qualität der Kameras, das Mobiltelefon sind unverzichtbar. Wer Rom besucht, will festhalten, was dort von der Antike vor über zweitausend Jahren noch übrig ist: Man bestaunt die Säulen auf dem Forum Romanum, das Kolosseum, das Pantheon – und will es zuhause gleichermaßen tun. Dieses Bedürfnis, sich der Antike in der Stadt am Tiber zu nähern, hatten freilich auch schon unsere Vorfahren zu Beginn der Neuzeit, wie eine Ausstellung des Museums der Universität Tübingen zeigt, nur übernahmen da die Künstler, was heute jeder Laie vermag.
Giovanni Battista Piranesi, Sybillen-Tempel in Tivoli, 1761
Und so, wie der heutige Fotoapparat möglichst detailgenaue, der Wirklichkeit entsprechende Wiedergaben der alten Sehenswürdigkeiten festhalten soll, strebten auch die Künstler eine präzise Wiedergabe der Relikte an. Die Laokoon-Gruppe fehlte dabei ebensowenig wie der Apollo Belvedere, das Kolosseum und die Trajanssäule. Allerdings war das Interessenspektrum ungleich breiter als bei den heutigen Touristen, ein Hinweis auf die ganz anders geartete Allgemeinbildung in früheren Jahrhunderten, die sich am klassischen Kanon orientierte. Da findet sich auch der Vestatempel in Tivoli, die Milvische Brücke und das Grabmal der Caecilia Metella. Aber nicht nur dieses Spektrum unterscheidet das Vorgehen unserer Vorfahren. Für den Fotografen von heute ein Ärgernis sind die unvermeidlichen Touristenscharen, die einen unverstellten Blick auf die Ruinen kaum zulassen; Menschen auf den Bildern waren für die Künstler von damals dagegen eine erwünschte Ergänzung und wurden bewusst eingebaut. Kaum eines der antiken Monumente ohne einige Figuren im Vordergrund. Bei Piranesi deuten sie mit theatralischer Geste auf die staunenswerten Ruinen und bringen so die Faszination der Besucher zum Ausdruck – für all jene, die nicht das Glück hatten, selbst am Schauplatz der Antike sein zu können. Denn die Graphiken aus der frühen Neuzeit hatten nicht zuletzt Informations- und Ersatzfunktion. Sie machten Rom, das weithin als Sage in den Köpfen der Menschen existierte, bekannt. Gerade Piranesis Darstellung des Sybillentempels machte dieses Bauwerk weithin populär, inspirierte spätere Baumeister zu Nachahmungen, so etwa im Park von Schloss Hohenheim, wie der vorzügliche Katalog aufklärt.
Und die Stiche vermittelten zugleich einen Eindruck davon, wie ergriffen die Menschen von diesen antiken Relikten waren oder zumindest sein sollten. Immer wieder sind in die Darstellungen Menschen eingefügt, die als Ersatz für den Betrachter der Graphiken dienten, für die eine Reise nach Rom nicht in Frage kam, also für die meisten.
Hendrick Goltzius, Herkules Farnese, um 1592
Hendrick Goltzius ergänzte sein Bild des Herkules Farnese durch zwei Bewunderer, die aufgrund der Kleidung eindeutig der gehobeneren Gesellschaftsschicht angehören, eben jene, die überhaupt eine Reise nach Rom machen konnten. Das dient gleich mehreren Zielen. Zum einen gibt es das Staunen der Betrachter wieder, zum zweiten betonen die kleinen, am unteren Bildrand befindlichen Köpfe die Monumentalität der Skulptur. Interessant ist die Perspektive, denn die Skulptur wird nicht von vorn wiedergegeben, sondern von hinten, das Staunen der beiden Touristen scheint wichtiger als die Statue selbst. Dafür aber sehen die Betrachter dieser Graphik etwas, was den beiden Besuchern verborgen bleibt, die Äpfel, die Herakles den Hesperiden gestohlen hatte.
Jede der Graphiken ist im Katalog ausführlich beschrieben, historisch eingeordnet und in ihrer Funktion hinterfragt. Damit ist der Katalog zusammen mit der Ausstellung eine grandiose Einführung in die Welt der Antike, die im heutigen Allgemeinbildungsgut eben nicht mehr wie selbstverständlich zur Verfügung steht. Gerade die Äpfel der Hesperiden führen ein in die so anregende, anekdotisch wirkende Welt der antiken Götter, die nur von einem Helden wie Herakles überlistet werden konnten. Man erfährt, wer Meleager war, dass Hirten in antiker Tradition als Verweis auf die Sterblichkeit des Menschen gesehen werden konnten, in christlicher dagegen als Beispiele für Demut.
Zudem führt der Katalog ein in die Mentalität der gehobenen Bevölkerungsschichten des 17. und 18. Jahrhunderts, die ihre Allgemeinbildung gern auf einer großen Europareise ausweiten und validieren wollten, als deren Zielpunkt die Ewige Stadt am Tiber besonders beliebt war. Die in ganz Europa verbreiteten Graphiken mit den Sehenswürdigkeiten dieser Stadt beförderten natürlich den Wunsch nach einer solchen „Grand Tour“, die vor allem für englische Bildungsbeflissene von großem Interesse war.
Aegidius Sadeler, Marc-Aurel-Säule, 1606
Und die Graphiker dieser Stiche wandten nicht selten Tricks an, um möglichst viel von diesen Sehenswürdigkeiten zu verbreiten. Was heute mehrere Fotos von verschiedenen Perspektivpunkten ermöglichen, den Blick auf mehrere Monumente, erreichten die Graphiker, indem sie Bauwerke in einem einzigen Bild zusammenspannten, die man von einem einzigen Blickpunkt aus gar nicht zusammen wahrnehmen konnte. So kombinierte Aegidius Sadeler die Säule des Marc Aurel mit dem Hadrianeum – zwei Attraktionen auf einen Blick, der in Wirklichkeit nicht möglich ist. So gaukeln diese Graphiken bisweilen eine historische Realität vor, die es so nicht gab, die aber wie natürlich wirkt.
So ist eine Ausstellung gelungen, die kunsthistorische Zusammenhänge, antikes Bildungsgut und eine Mentalitäts- und Sozialgeschichte der Jahrhunderte nach Beginn der Neuzeit zu einer Einheit verbindet.
„Antike im Druck. Zwischen Imagination und Empirie“, Schloss Hohentübingen. Katalog 214 Seiten, 19,90 Euro