Für Johann Christoph Gottsched, einen der führenden Literaturtheoretiker des 18. Jahrhunderts war sie „das unnatürlichste und ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden hat“: die Oper – und wenn es eine Epoche gibt, die wie ein Beleg für dieses Verdikt betrachtet werden kann, dann ist es das Barock. Hier entführt die Oper den Besucher in Märchenwelten, hier treten Zauberinnen auf, hier wird Rache geübt, leidenschaftlich geliebt und ebenso leidenschaftlich gehasst, alles auf höchster Kochstufe. Die Handlung dient weitgehend dazu, Figuren in Extremsituationen zu versetzen, Figuren dienen dem Zweck, glühende Affekte vorzuführen. Psychologie ist hier Nebensache, stringente Handlung auch. Das alles haben sich offenbar Jossi Wieler und Sergio Morabito vor Augen gehalten, als sie sich daran machten, Händels „Ariodante“ für die Oper Stuttgart zu inszenieren – auf faszinierende und zugleich verstörende Weise, beides extrem, versteht sich.
Das Happy end steht bevor, ehe sich der Vorhang hebt: Feldherr Ariodante will die Prinzessin Ginevra heiraten, und deren Vater ist derart glücklich darüber, dass er Ariodante gleich zu seinem Nachfolger bestimmt.
Das wäre Anlass zu prunkvoller Festeslaune auf der Bühne, aber nicht so in Stuttgart. Hier ist der Schauplatz eine Art Arena, und während der Ouvertüre beginnt der „Einlauf der Gladiatoren“: In Joggingkleidung mit Kapuzen treten sie an die Rampe, machen eine Siegergeste und werden auf einem Monitor mit Namen und der Rolle, die sie im Folgenden spielen werden, vorgestellt. Wenn dann die Musik sängerische Aktion erfordert, geschieht das eher nebenbei. Kostüme fehlen weitgehend, eine Krone reicht aus, den König zu markieren. Wieler und Morabito scheren sich nicht um die Handlung – und nehmen dabei diese Barockoper sehr ernst, denn Handlung ist nebensächlich, wird rasch in wenigen Rezitativsätzen angedeutet und dient fast ausschließlich zur Demonstration von großen Gefühlen: Liebe, Nebenbuhlerschaft, Trauer.
Diese Emotionen kommen in den langen Arien zum Ausdruck, und so inszeniert das Regieduo nicht die Oper als Ganzes, sondern die einzelnen Szenen. Hier allerdings entfalten sie ein Spektrum von Einfällen, das die Szenen exzessiv wirken lässt und zugleich psychologisch nachvollziehbar. Da Ariodante, gesungen von der Mezzosopranistin Diana Haller, nach seiner Hochzeit mit Ginevra König werden soll, führt ihm der noch regierende Herrscher vor, wie man sich in der Öffentlichkeit als solcher geriert: huldvoll grüßend, würdig die Krone aufsetzend. Mit kleinen Details macht die Regie deutlich, was sich in diesen langen Arienszenen eigentlich abspielt – und sie lässt die Figuren immer wieder auch aus den Rollen fallen. Wenn Ana Durlovski als Ginevra ihre atemberaubenden Koloraturen – bewundernswert makellos – vorführt, schaut auch mal einer der übrigen Anwesenden auf die Uhr, wie lange sie das wohl durchhalten werde. Wenn in einer Arienbegleitung zwei Hörner solistisch agieren, kommen die beiden Musiker mit ihren Instrumenten auf die Bühne, als wären sie Mitakteure, was sie ja letztlich auch sind. Wenn Ariodante hört, seine Braut sei ihm untreu gewesen, malt er sich in einem Film das Geschehen bildlich aus. Es gibt keine Minute in dieser Inszenierung, die nicht sinnfällig macht, was sich gerade in den Figuren abspielt, und zugleich deutlich macht, dass das große Oper ist.
Musikalisch ist der Abend beglückend. Diana Haller und Ana Durlovski sind grandiose Koloraturakrobatinnen, die aber auch zu tiefer Empfindung in ihrer Gestaltung fähig sind. So entstehen in den mit Koloraturen gespickten langen Arien und Duetten Momente tiefer Ergriffenheit.
Wie Diana Haller zehn Minuten lang die tief sitzende Enttäuschung über den vermeintlichen Verrat der Verlobten verkörpert, ist nicht mehr zu überbieten; wie die beiden Sängerinnen, in der Oper ja ein Liebespaar, einander die Phrasen gesanglich zureichen, aufgreifen und weiterführen, ist ein Genuss sondergleichen. Gestützt werden sie von einem kleinen Orchester, das halb hochgefahren stets sichtbar ist und von Giuliano Carella zu feinem, sensiblem, zartem Klangspiel animiert wird, wo die echte Empfindung im Vordergrund steht, das aber auch furios aufspielt, wo die Emotionen überkochen.
Christophe Dumaux in der Rolle als Bösewicht beherrscht seine schwierig Countertenorstimmlage perfekt, ist schauspielerisch der aalglatte Intrigant und hat neben seiner Rolle als Schuft noch jene Invektiven auf französisch zu rezitieren, die Jean-Jacques Rousseau 1758, zwanzig Jahre nach der Entstehung von Händels Oper, gegen Frauen auf der Schauspielbühne formulierte. Das ist sicher gewöhnungsbedürftig, macht aber ähnlich historisch Sinn wie der Verzicht der Regie, eine Handlung stringent zu erzählen, denn mit einem Helden, der von einer Frau gesungen wird, und einem Countertenor als Bösewicht macht die Oper deutlich, wie unwichtig der Barockoper die Frage ist, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.
Gewöhnungsbedürftig aber ist sicher auch und eben auch verstörend – und das erklärt die doch deutlichen Buhrufe inmitten des Premierenjubels am Ende -, dass Wieler und Morabito letztlich die Barockoper in ihrer Inszenierung verweigern. Doch mit ihrer subtilen Szenendeutung liefern sie zugleich paradoxerweise große Oper. Das ist ein bewundernswerter Spagat. Am Ende dürfen die Figuren sogar doch in Barockkostüme schlüpfen, doch da ist die Oper auch gleich schon zu Ende. Geistreicher kann man ein solches Werk kaum mehr auf die Bühne bringen.