Wer etwas zitiert, bedient sich einer Vorlage, er reiht sich ein in eine Tradition und eröffnet Assoziationshorizonte, denn der Inhalt des Zitats scheint stets hindurch und wird doch durch einen neuen Kontext, eine leichte Variation zu etwas völlig Neuem. Dieses Spiel zwischen Übernahme und zarter Andeutung kann man derzeit im Reutlinger Spendhaus verfolgen. Monika Nuber und Katrin Ströbel, zwei auf Druckgraphik spezialisierte Künstlerinnen aus Stuttgart, waren eingeladen, in der Reutlinger Kunstsammlung zu stöbern, die ihrerseits auf Druckgraphik, genauer, den Holzschnitt, spezialisiert ist. „Ping Pong“ hieß das Resultat vor einem Jahr – ein Dialog, denn die beiden Künstlerinnen beschränkten sich nicht darauf, eine subjektiv geprägte Auswahl aus der Sammlung zu präsentieren, sie stellten den älteren Werke ihre eigenen künstlerischen Antworten gegenüber.
Philipp Bauknecht. Alpabtrieb © Städtisches Kunstmuseum Reutlingen
Es ist eindeutig eine Arbeit aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. 1918 schuf Philipp Bauknecht im Stil der Expressionisten aus dicken schwarzen Strichen eine Gebirgslandschaft. Menschen und Tiere bewegen sich darauf abwärts: „Alpabtrieb“ heißt das Bild. Neben dieser Arbeit findet sich jetzt in der neuen Ausstellung ein Blatt, das sich ebenfalls aus lauter schwarzen Strichen zusammensetzt,
Monika Nuber. Alpabtrieb – Zoom © Städtisches Kunstmuseum Reutlingen
doch sind diese Striche ungleich dicker, gröber – und bei genauerem Hinsehen entdeckt man, dass es sich um einen Ausschnitt aus Bauknechts altem Holzschnitt handelt, mit modernen Mitteln vergrößert. „Alpabtrieb, Zoom“ nennt Monika Nuber ihr Blatt – es ist ein Zitat und zugleich ein eigenständiges Werk, denn durch die Vergrößerung beschränkt sich das Zitat nicht nur auf einen Bildausschnitt, es transformiert zugleich die Vorlage: Aus Bauknechts expressiv dargestellter Gebirgsszene ist eine abstrakte Komposition aus schwarzgrauen Strichen geworden, aus dem Holzschnitt Bauknechts ein Linolschnitt von Monika Nuber.
Ein Zitat kann aber auch lediglich als Anregung verstanden werden.
Friedrich Karl Gotsch, Verehrung © Städtisches Kunstmuseum Reutlingen
„Verehrung“ nannte 1923 Friedrich Karl Gotsch einen Holzschnitt: Ein Mann kniet vor einer etwas abweisend wirkenden Dame und hält die Hände gefaltet wie vor einer Madonna. Das hat Katrin Ströbel zu dem etwas sarkastischen Statement „a limited Engagement“ verleitet, das sie in großen Lettern im Linoldruck zu Papier brachte. Alt und neu traulich vereint nebeneinander.
Katrin Ströbel. A limited Engagement © Städtisches Kunstmuseum Reutlingen
Derselbe Friedrich Karl Gotsch regte auch Monika Nuber an: Aus seinem Holzschnitt „Verstrickung“, auf dem sich ein Paar innig umarmt, während etwas abseits eine Frau kniet, machte sie radikal eine „Enthauptung“, bei der die Kniende nun auf den von Gotschs Holzschnitt übernommenen Kopf des Mannes herabschaut; aus Gotschs Bildkommentar zu Knut Hamsun wurde bei Monika Nuber eine Salome.
Katrin Ströbels Arbeiten sind nicht selten politisch engagiert. So führte ein „Negerjunge“ von 1950 von Gerhart Bettermann bei ihr zu einer schwarzen Bildtafel, die, kaum sichtbar, einen Kommentar zur „Exklusion der westlichen Welt“ enthält. Das alles ist mehr als bloßes Zitat im engeren Sinn, es ist eine kreative Weiterführung: Aus einer Anregung entstand eine vollkommen andere Bildaussage.
Man hätte diese Ausstellung: „Variationen zum Thema Zitat“ nennen können. So beziehen sich die beiden Künstlerinnen immer wieder auch auf ihre eigenen Arbeiten. Sie haben die drei großen Ausstellungsräume mit einer riesigen, selbst gestalteten Tapete ausgekleidet, auf der sich Elemente ihrer kleineren Druckarbeiten finden: Kartoffeln im ersten Stock, ein Herz im 2., Hände im 3. Geschoss. So entstand ein eigener Kosmos der beiden Graphikerinnen.
Und der Zitatcharakter dieser Ausstellung beschränkt sich nicht nur auf Inhalte. So wird das Thema „Druckgraphik“ in allen Variationen durchgespielt: Linoldruck reagiert auf Holzschnitt, es wurde mit Moosgummi gedruckt und mit der guten alten Kartoffel. Diese Techniken wiederum hinterlassen, wie in der Druckgraphik üblich, ihre Spuren in den Arbeiten: Die Maserung des Holzes wird sichtbar, das Neutrum des Linoleums ermöglicht glatten Druck, die Kartoffel diente nicht nur als Druckstock, in den Formen geschnitzt werden können, sie wurde – einmal halbiert – in ihrer ganzen unregelmäßigen Naturform auf das Papier gebracht (und gab der Ausstellung den Titel).
So wird die Ausstellung auch einer weiteren Bedeutung des Begriffs Zitat gerecht: Das lateinische citare heißt auch: in Bewegung versetzen. Das Spiel mit den Assoziationen auf allen Ebenen setzt Gedanken in Gang. Allerdings erwarten die beiden Künstlerinnen vom Besucher ein geradezu enzyklopädisches Wissen: Kennt heute noch jeder Ausstellungsbesucher den vierzig Jahre alten Film von Rainer Werner Faßbinder: Angst essen Seele auf, auf den sich eine Texttafel bezieht. Weiß jeder sofort, dass es darin unter anderem um Ressentiments gegen Andersfarbige geht? Zieht jeder von diesem Film aus den Spannungsbogen zum Thema Kolonialismus und landet bei Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis? Kennt jeder Christoph Schlingensiefs Kirche der Angst, in der es um das Fremde in uns geht?
Hier werden Zitate auf Anspielungen reduziert, und die setzen noch viel mehr als regelrechte Zitate voraus, dass der Betrachter den Hintergrund solcher Querverweise nachvollziehen kann, ansonsten sind sie reine Spielereien von Insidern und dürften den Besucher einer solchen Ausstellung nicht selten ratlos zurücklassen.
„Katrin Ströbel, Monika Nuber: Wilde Kartoffeln“. Städtisches Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen bis 15.9.2016