Die Kunst der Freiheit. Der Jazz und die bildende Kunst im Kunstmuseum Stuttgart

Wo genau der Jazz entstand, ist umstritten. Manche behaupten in New Orleans, andere wieder favorisieren New York. Auf jeden Fall stammt er aus den Randbereichen der Gesellschaft, aus den Armenvierteln der Großstädte, den dunklen Spelunken, und gespielt wurde er meist von Afroamerikanern – eine Form der Subkultur also. Das war in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Doch spätestens seit sich regelrechte Jazzbands oder gar -orchester gründeten, entwickelten die Musiker dieser Richtung Selbstbewusstsein – und fanden sehr bald begeisterte Anhänger, nicht zuletzt unter den bildenden Künstlern. Das Kunstmuseum Stuttgart geht nun in einer großen Ausstellung der vielschichtigen Symbiose zwischen diesen beiden Künsten nach.

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Ernst Ludwig Kirchner, Negertanz, 1911. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf. Foto: Walter Klein, Düsseldorf

Die Künstler, die sich ganz dem uneingeschränkten Ausdruck ihrer Emotionen hingaben, die Expressionisten, waren begeistert; endlich fanden sie in der Musik das, was sie auf der Leinwand propagierten – eine neue Körperkultur, eine Befreiung von jeder Korsettierung, ungehemmtes Ausleben des Ichs. Entsprechend waren auch die Beschreibungen der ersten Auftritte dieser ungewohnten Musiker – und ihre Darstellung im Bild. Als „wahnsinnig“ bezeichnete George Grosz das Gebaren eines Jazzdirigenten, und wild ausgelassen ließ Ernst Ludwig Kirchner ein Paar einen „Negertanz“ aufs Parkett legen, wie er sein Bild in der damals noch kritiklosen Terminologie nannte – die ausführlichen Texte im Katalog sind mehr als nur eine Begleitung der Ausstellung, sie sind insgesamt eine faszinierende Kulturgeschichte des Jazz. Und viele Künstler waren von ihm angezogen: Noch 1946 widmete Max Beckmann, der zu den frühesten Jazzfans gehörte, dem Song „Begin the Beguin“ von Irving Berlin ein großes Bild, Otto Dix porträtierte in seinem Großstadt-Gemälde eine Jazzkapelle.

Inbegriff des Jazz mit seiner ausgelassenen Rhythmik, seiner ungebundenen Musizierfreude und ungebremsten Körperlichkeit war Josephine Baker. Ihr widmet die Ausstellung ein zentrales Kapitel – völlig zu Recht, denn offenbar konnte sich keiner ihrer Anziehungskraft entziehen: Weder der Architekt Adolf Loos, der ein Haus für die von ihm Verehrte entwarf – das Modell ist in der Ausstellung zu sehen -, noch Raoul Dufy, der sie mit ätherischen bunten Strichen porträtierte, noch Paul Colin, der eine ganze Mappe dem „Tumulte noir“ widmete, oder Henri Matisse, der sie in einem Scherenschnitt verewigte.

Das ist eine Möglichkeit, dem Jazz bildnerisch ein Denkmal zu setzen. Ungleich subtiler sind aber die Versuche, dem Phänomen Jazz mit bildnerischen Mitteln nahe zu kommen, dem Rhythmus, den Synkopen, dem Tempo, der Improvisation. Kein Wunder, dass ein Vertreter des Futurismus sich mit wilden und doch eleganten abstrakten Strichen dem Phänomen näherte – Gino Severini -, schließlich war der Futurismus wie kaum eine andere Kunstrichtung geprägt vom Tempo der modernen Zeit. Francis Picabia gestaltete das neue musikalische Phänomen in einer raffinierten Mischung aus kubistischen Formgebilden, und noch in den 80er Jahren zeigte Jean-Michel Basquiat das Orgiastische dieser Musik in einer frechen wilden Collage aus Tänzern, Noten und Instrumenten.

 

Jackson Pollock ließ den Jazz gar unmittelbar in seine Bilder einfließen, denn er hörte gerne stundenlang Jazz, wenn er Farbe auf die am Boden liegende Leinwand tröpfeln ließ.

Diese Subtilität im Abstrakten erreichten in der informellen Kunst nach dem 2. Weltkrieg noch einmal Bernard Schultze, der eine Komposition in Blau und Grau bezeichnenderweise „Spontan“ nannte, oder K.R.H. Sonderborg, der seine abstrakten Pinselstriche elegant und temperamentvoll auf die Leinwand brachte. Er selbst malte ähnlich wie Pollock zu Jazzklängen, ein Video zeigt ihn bei einer solchen spontanen Aktion zu Livemusik.

 

Diese Subtilität erreichten spätere Künstler kaum mehr. Andy Warhol ist mit seinem Doppelporträt von Elvis Presley vertreten. Die meisten Künstler kehrten ab den80 Jahren wieder zu dem zurück, was Grosz, Dix und Co. in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gemacht hatten: Sie porträtierten Musiker entweder beim Musizieren oder einfach nur als Individuen. Dafür kehrten sich ab den 60er Jahren die Perspektiven um. Hatten früher die bildenden Künstler vom Jazz profitiert, indem er ihnen Inspiration für ihre Bilder lieferte, war nun die Musik Nutznießerin der bildenden Kunst. So gestaltete neben anderen anderen Andy Warhol zahlreiche Plattencover von Thelonius Monk, Count Basie und vielen anderen, so übte der Jazz auch Jahrzehnte, nachdem er seinen Siegeszug im Musikleben der Welt angetreten und die populäre Musik längst andere Ausdrucksformen entwickelt hatte, immer noch seine Faszination aus.

I got rhythm. Kunst und Jazz seit 1920“. Kunstmuseum Stuttgart bis 6.3.2016

Katalog 288 Seiten 35 Euro

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