Dem künftigen Intendanten des Stuttgarter Balletts, Tamas Detrich, könnte der neue Ballettabend zu denken geben. Als Marco Goecke, mit dessen neuem Stück der Abend endete, die Bühne betrat, regnete es aus dem Publikum Blumensträuße und der langjährige Stuttgarter Hauschoreograph erhielt Standing Ovations. Das war zum einen hymnisches Lob für seine Choreographie, mit der er ganz neue Wege beschritt, das war aber auch als Protestkundgebung zu interpretieren, denn Detrich hatte vor einigen Wochen bekanntgegeben, dass er Goecke in seiner Intendanz nicht mehr als Hauschoreograph beschäftige, den Künstler, dem die Compagnie in den vergangenen Jahren zwölf fulminante Uraufführungen verdankt.
© Stuttgarter Ballett
Man konnte durchaus den Eindruck gewinnen, als habe Goecke mit seiner neuen Arbeit „Almost Blue“ seine eigene Situation reflektiert. Ein Hauch von Wehmut liegt über dem Geschehen, entsetzt blicken seine Tänzer uns an, heben die Arme, verdecken sich das Gesicht. Schüsse aus dem Hintergrund hatten den Auftakt gegeben zu einer Choreographie, die typisch Goecke ist und doch zugleich in neue Richtungen weisen könnte. Immer noch zucken die Glieder der Tänzer, hektisch ruckhaft sind die Bewegungen. Doch immer wieder verlangsamen sie sich zur Zeitlupe, geraten zum Stillstand, so als fragten sich die Tänzer, was sie da eigentlich tun, und wie es weiter gehen könnte. Neben dem von ihm entwickelten Bewegungsrepertoire bilden sich auch immer wieder Posen des klassischen Balletts, zwar gebrochen durch die goeckeschen fiebrigen Zuckungen, aber unverkennbar. Dann leert sich die Bühne und der letzte noch verbliebenen Tänzer schreitet langsam nach hinten, bis ihn das Bühnendunkel verschluckt. Hier tritt einer ab, und wenn das Stück hier geendet hätte, wäre die Arbeit allzu sehr auf Goeckes erzwungenen Abschied von Stuttgart zugeschnitten. Doch dann lässt Goecke den Tanz noch einmal aufleben, zu Songs aus einem Livekonzert, einem Medley, und auch die Tänzer spulen eine Art Medley ab. Der Tanz geht weiter, bis er endet wie auch das Konzert aus dem Lautsprecher. Dort brandet Beifall auf – und das Stuttgarter Publikum folgt dem mit einem wahren Regen an Blumensträußen und Standing Ovations.
Reminiszenzen liegen auch den übrigen Stücken des Abends zugrunde. Louis Stiens zum Beispiel brachte die Bilder auf die Tanzbühne, die sich ihm in den vergangenen Jahrzehnten eingeprägt haben. Das Stück beginnt zum Geräusch einer mächtigen Meeresbrandung mit dem Auftritt zweier Meerjungfrauen, man kann sich durchaus an Hollywoodfilme der 30er Jahre erinnert fühlen. Dann blitzen Bilder auf, die an Cowboyfilme erinnern, mit stilisierten Boxkämpfen, ein Mann als Cheergirl mit glitzernden Pompons tritt auf, und schließlich blicken wir in ein Aerobicstudio, in dem die Fitnesssüchtigen sich tänzerisch bis zur Ermüdung abstrampeln, bis ihre Körper „Skinny“ sind, so der Titel der Arbeit. Das alles ist witzig, Stiens ließ sich durch die hämmernde elektronische Musik von Halcyon Veil zu überraschenden Bewegungen inspirieren, doch werden die Bilder, die er tänzerisch evoziert, allzu beliebig nebeneinander gesetzt, eine dramaturgische Stringenz fehlt.
An Stringenz im Inhalt Substanz fehlt es auch Fabio Adorisios „Or noir“. Der Titel bezieht sich auf eine jahrhundertealte japanische Handwerkstechnik, die mithilfe von Gold kostbare Porzellane oder Keramiken repariert. Das kittende Gold zeigt sich zwar auf den Trikots in Form goldfarbener Striche, doch ansonsten ist Adorisios Choreographie eine modern-klassische Auseinandersetzung mit Paarbeziehungen: Von Zuneigung bis Ablehnung reicht das Spektrum, die Emotionen werden zur vom Tango inspirierter Musik hochgepeitscht, eine Tour de force durch das Beziehungsgeflecht von Mann und Frau, das vollkommen ohne den japanischen Hintergrund für sich bestehen kann.
In sich schlüssig hingegen ist der Rat von Katarzyna Kozielska: „Take Your Pleasure Seriously“. Auch sie ließ sich von ihrer eigenen Biographie anregen, wie es möglicherweise Goecke tat. Ihr hatten, wie sie im Programmheft formuliert, als junge Tänzerin die Ersten Solistinnen imponiert, und also bringt sie eine Hommage an die Solisten einer Compagnie auf die Tanzbühne, allen voran die Erste Solistin, die hier von einer der Ersten Solistinnen in Stuttgart, Alicia Amatriain, getanzt wird.
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Genüsslich, zugleich aber auch mit einem Hauch Selbstironie degradiert diese Erste Solistin die Herren zu Trägern und Hebern, lässt sich in die Höhe werfen, posiert malerisch auf den ausgestreckten Armen der Herren in schwindelnder Höhe. Was dann folgt, ist ein geradezu klassischer Pas de deux, durch gleißend weißes Licht einer ganz anderen Seinssphäre zugehörig, eine Art Vision, die auf die Zukunft von Katarzyna Kozielska verweisen könnte, denn sie will nur noch choreographisch arbeiten, doch für einen Blick nach vorn ist diese Tanzszene zu harmlos. Bleibt zu hoffen, dass die Choreographin in Zukunft neue Wege findet.
Den fulminanten Auftakt des Abends bildet Roman Novitzkys neue Arbeit. Er untersucht gewissermaßen, was unter der Oberfläche – „Under the Surface“ – unserer Alltagsbewegungen liegen kann, und entdeckt den Tanz. Acht Tänzer versammeln sich um einen Tisch. Man palavert, man meldet sich zu Wort, man gestikuliert – doch jede dieser vertrauten Gesten kippt in Sekundenschnelle in Tanz um. Dasselbe gilt für die Begegnungen zwischen den Geschlechtern. Da rücken zögernd schüchtern Verliebte einander näher, versucht eine weitere junge Frau durch kecke Anmache das Glück zu stören, müssen zwei Damen entdecken, dass die Herren auch gut ohne sie miteinander auskommen. Selten findet sich tänzerischer Witz derart geballt auf der Ballettbühne. Novitzky hat souverän aus einer thematischen Idee ein Feuerwerk tänzerischer Überraschungen kreiert.
Der Abend ist gewissermaßen ein Abschiedsgeschenk, das der scheidende Stuttgarter Ballettdirektor Reid Anderson sich selbst gemacht hat. „Die Fantastischen Fünf“ sind die möglicherweise besten fünf Choreographen, denen er in den vergangenen Jahren in jungem Alter die Chance gegeben hat, ins Fach des Choreographen zu wechseln. Der Abend zeigt auch, wie brillant ihm der Spagat gelungen ist zwischen der Rolle des Lordsiegelbewahrers des Cranko-Erbes, das in Stuttgart in Ehren gehalten wird, und der des Erneuerers, was er mit über hundert Uraufführungen bewiesen hat. Und der Abend zeigt, dass er einen untrüglichen Blick für Begabungen hat – wie auch die knappe Danksagung von Marco Goecke zeigt, die er im Programmheft seinem neuen Stück vorangestellt hat, und zwar in Form eines Tagebucheintrags von 2001: „Heute zum ersten Mal Reid Anderson getroffen, sehr nett. Er sagte mir, er wolle das Video von meinem ersten Stück sehen. Und dass Noverre eine tolle Chance sei. Ich solle hart arbeiten“. Vier Jahre später ernannte Anderson diesen Goecke zum Hauschoreographen in Stuttgart.