Die Bilder im Kopf: Daniel Deroubaix im Reutlinger Kunstmuseum

Als die Malerei noch als Handwerk galt, war es eine Ehre, bei einem großen Meister lernen zu dürfen und zu kopieren. Erst als dem Künstler Genialität zugesprochen wurde, das war Ende des 18. Jahrhunderts, galt es, aus sich selbst zu schöpfen. Dennoch sahen sich auch danach die Künstler fest eingebunden in die Tradition, und ein Picasso malte noch im Alter einige berühmte Gemälde in seinem Stil nach. Der 1972 in Lille geborene Damien Deroubaix bekennt sich dezidiert dazu, mit den Künstlern der Vergangenheit ständig „im Gespräch“ zu sein. So hat er jetzt die dritte Etappe eines Ausstellungsprojekts in Reutlingen im Untertitel Alte Meister genannt.

 

Das riesige Bild, mit dem der Besucher in Reutlingen empfangen wird, wirkt eher wie ein Plakat zu einem Heavy-Metal-Konzert. Darauf deutet die Schrift in der Mitte, und doch ist es das Ergebnis des intensiven „Gesprächs“ des Künstlers mit alten Vorbildern. So schwebt über dem Ganzen im Stil einer Druckgraphik eine Fledermaus – so wie sie über dem Haupt des schlafenden Künstlers kreist, der bei Francisco de Goya in seinen Träumen Ungeheuer gebiert. Und auch die wie eine Popartfigur wirkende urinierende Gestalt hat ein kunsthistorisches Vorbild. Rembrandt gestaltete sie in einer Radierung. Bei ihm lehnt diese „pissende Frau“ mit dem Gesäß an einem Baum, bei Deroubaix fehlt ihr Oberkörper, und statt des Baums ragt über ihr eine Art Totempfahl in die Höhe. Deroubaix bedient sich bei der Kunstgeschichte, aber er zitiert nicht „wörtlich“. So finden sich in seiner von Goya inspirierten Fledermaus zwei Fantasietiere, die einander beäugen, und über dem Totempfahl befindet sich bei Deroubaix das Auge Gottes, wie es in zahlreichen Darstellungen früherer Epochen zu finden ist.

Deroubaix führt mit seiner Kunst vor, was im Kopf eines bildenden Künstlers geschieht, und das kann man in dieser Ausstellung vielleicht noch besser als in den beiden vorangegangenen Etappen mustergültig nachvollziehen. So geht er davon aus, dass sich im Kopf eines Künstlers – wie in dem eines jeden Menschen – zahlreiche Bilder sammeln, mutieren, neue Verbindungen eingehen. Diesen Vorgang hat er in einer Serie mit dem Titel Painters in Bilder gefasst. Zu sehen ist stets eine Art stilisiertes Selbstporträt, bei dem der Mund mit einem grob nach Holzschnittart gemalten Reißverschluss verschlossen ist: Der Künstler spreche mit Bildern, nicht mit Worten, oder um Goethe zu zitieren: „Bilde, Künstler! Rede nicht!“ In die Stirn hat Deroubaix dann ein berühmtes Bild eingefügt. Das kann ein Bild aus Holbeins Totentanz sein, eine Brücke von Max Beckmann, eine Großstadtszene von Kirchner: Der Kopf des Künstler – ein wahres Bildlexikon der Kunstgeschichte!

Für die Reutlinger Ausstellung hat er eigens Arbeiten mit Zitaten dieser für ihre Holzschnittkunst bekannten Künstler geschaffen, schließlich widmet sich das Reutlinger Kunstmuseum dieser Technik. Weshalb er diese Serie nicht Painters, sondern Graveurs nennt. Er sollte allerdings aufpassen, dass daraus nicht eine Wiederholung wird, denn diese neuen Arbeiten funktionieren nach demselben Muster wie die Painters. Außerdem müsste sich jeweils der Gesichtsausdruck des Malers oder Graphikers deutlich unterscheiden, denn man dürfte sich bei dem Gedanken an Picassos Guernica sehr viel anders fühlen als bei einer Großstadtszene von Kirchner.

Aber diese Bilder erfahren eine Umdeutung, daher die Veränderungen, nicht zuletzt, weil die Bildelemente mehrdeutig sind. So steht die Fledermaus in Europa für die Nachtseiten der Existenz – Vampire -, während sie in China Gutes bedeutet, in Nordamerika steht sie gar für Unsterblichkeit und Wiedergeburt. Was Deroubaix mit ihr verbindet, bleibt offen, der Betrachter kann sich seinen eigenen Reim darauf machen. So zitiert er aus Dürers Graphik Nemesis die große Vogelschwinge und fügt sie einer Frauenfigur mit dem Gesicht einer Heavy-Metal-Musikerin an, wobei man nicht unbedingt dieses Motiv kennen muss, es gab auch schon Betrachter, die darin Maggie Thatcher erkannt zu haben glaubten.

Die Assoziation zu Heavy Metal ist nicht beiläufig, Deroubaix liebt diese Musik und gab seinem großen Bild denn auch den Titel einer Heavy-Metal-Fernsehsendung: Headbangers Ball, denn seine Arbeiten geben nicht nur Einblick in das Nachwirken der Kunstgeschichte, sie zeigen vielmehr, wie das Gehirn insgesamt funktioniert – als gewaltiger Assoziationsapparat, weshalb er seine Bilder oft wie große Collagen aufbaut, Collagen, in denen auch immer wieder Elemente anderer Kulturen auftauchen, Nagelfetische aus dem Kongo beispielsweise. Das alles wirkt als Inspiration für seine Bilder, in denen es oft um Gewalt und Angst geht und um Ambivalenz.

So gestaltete er mit dem Titel Dissident Agressor eine Art Doppelwesen, bei dem aus der Brust zwei Köpfe entwachsen.

Deroubaix hat sich so mit den immer zitatweise anklingenden Bildelementen eine Art privaten Mythenkatalog geschaffen, der die Betrachter zu eigenen Deutungen und Reaktionen herausfordert und zur Reflexion, was alles und in welcher Form in seinem Kopf an Bildern existiert – eine Kunst über die Funktionsweise des bildnerischen Denkens.

Headbangers Ball, part 3: Alte Meister (Komödie)“, Kunstmuseum Reutlingen bis 1.3.2020

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert