Sie waren lange Zeit verschrien als Opern des reinen Schöngesangs, Belcanto in Höchstform, die von ihrer Handlung auf den oberflächlichen Blick hin nicht selten ein wenig haarsträubend wirkenden Musikdramen eines Donizetti oder eines Bellini – bis sie von Maria Callas in ihrer psychologischen Dramatik neu entdeckt wurden und durch Joan Sutherland zugleich mit dem ihnen zugrunde liegenden Belcanto stimmlich geadelt wurden. Jossi Wieler und sein Ko-Regisseur Sergio Morabito haben das Wagnis unternommen, in Stuttgart die drei großen Bellini-Opern mit neuen Sehweisen auf die Bühne zu bringen: Vor vierzehn Jahren die Norma – die Callas-Rolle schlechthin, vor vier Jahren die Nachtwandlerin, mit der ihnen die „Inszenierung des Jahres“ gelang, nun das vielleicht sprödeste der drei Werke: Die Puritaner“, angesiedelt im englischen Bürgerkrieg, in der sinnenfeindlichen Welt der Cromwell-Anhänger, der Bilderstürmer der englischen Geschichte.
Diana Haller (Enrichetta). Mitglieder des Staatsopernchores. Foto: A. T. Schaefer
Bilder prägen die ganze Inszenierung, allerdings, entsprechend der puritanischen Ideologie, Bilder, die verleugnet werden. Mit der Vorderseite stehen sie an die Wand gelehnt, vermutlich, um in Bälde ganz in den Rumpelkammern zu verschwinden. Nur eine Person entreißt sie diesem Schicksal: Elvira, die Tochter des puritanischen Schlossherrn; sie dreht sie um, versenkt sich ganz in die Sinnenpracht und die Inhalte – wie sie sich schon zu Beginn der Oper eifrig in fiktive Welten versenkt hat. Sie liest – ein Comic-Heft, die Bilderversion des großen historischen Romans. Anna Viebrock hat wieder einmal ein subtiles, anspielungsreiches Bühnenbild geschaffen: die Norma hatte sie in die Zeit der Résistance verlegt, das Geschehen in einer alten Kirche angesiedelt, die Nachtwandlerin in einem bigotten Alpendorf, die Puritaner nun in einer von diesen selbst geschaffenen Ödnis. Fantasie ist hier nicht erwünscht, die Herren (des Chores) sind mit Bibeln bewaffnet, die Frauen in züchtigen Hauben putzen Wände und Böden, wie es in der strengsten schwäbischen Kehrwoche nicht denkbar wäre.
Nur Elvira steht abseits, buchstäblich am Rande des Geschehens, und sie wird abseits bleiben. Anfangs lebt sie in einer von ihr geschaffenen Traumwelt, die sich an den großen historischen Gemälden der Stuartkönige orientiert, und so erscheint denn auch die große Gesellschaft in den kargen Mauern des väterlichen Schlosses wie eine Travestie. Ihr Geliebter Arturo tritt in einem märchenhaften Kostüm auf mit der Verve des großen Frauen- und Publikumshelden, Enrichetta, die Witwe des auf Cromwells Befehl hingerichteten Königs Karls I., als Grande Dame. Und die Gesellschaft der Puritaner wirkt, wenn sie nicht betet und putzt, was das Zeug hält, wie eine Gruppe von Zombies, denen wahres Leben fremd ist. Dass Elvira sich dem verweigert, ist von Anfang an nachvollziehbar – und als sie meint, ihr Geliebter habe sie mit Enrichetta betrogen, zieht sie sich in die noch krassere fiktive Welt des Wahnsinns zurück.
Ana Durlovski, die schon als Nachtwandlerin eine grandiose Alternative zu der von der Callas geprägten Rollendeutung gestaltet hatte, verkörpert Elvira als Mädchen, das nicht glauben kann, was geschieht.
Ana Durlovski (Elvira). Foto: A. T. Schaefer
Wahnsinn ist bei ihr nicht Irresein, sondern Verdrängung. Sie will – Wieler und Morabito haben wieder einmal das Libretto Wort für Wort gelesen und ernst genommen – nicht wahrhaben, dass Arturo für sie verloren ist. Wieler und Morabito haben eine Traumwahnwelt auf die Bühne gebracht. Im dritten Akt hat Elvira sich in ein Puppenhaus zurückgezogen, wo sie sich sicher wähnt, und aus dem sie erst herauskommt, als Arturo wieder auftritt – mit dem sie freilich, anders als Bellini es – zugegeben in einer Art Holterdipolterfinale – vorschreibt, niemals ein Happy End erleben kann, schließlich unterscheidet er sich nicht sonderlich von den halsstarrigen Vertretern der puritanischen Sache, auch wenn er sich auf die Seite der dem Tode geweihten Königswitwe schlägt. Am Ende wird er eingehen in die Masse der Zombies – und Elvira zurückbleiben, wie sie schon zu Beginn am Rande eine eigene Existenz geführt hat.
Ana Durlovsky gelingt auch stimmlich die Gratwanderung zwischen Verzweiflung und Wahn, bleibt Mädchen und ist zugleich tragisches Opfer einer Welt, in der Glück unmöglich ist, Flucht ebenso: Die mit der Bildseite an die Wand gelehnten Gemälde bilden neben den kargen Mauern des Schlosses eine weitere Gefängnismauer.
Wieler und Morabito gelingt ein weiteres inszenatorisches Wunder: Wirkt die Welt der Puritaner nicht selten wie eine Persiflage, ein Zerrbild, das letztlich das Innerste der von ihnen gelebten Ideologie nach außen kehrt, so befinden wir uns im Mittelteil der Oper in einer realistischen Welt. Hier dominiert psychologisches Feingefühl in jeder Bewegung – es ist eine Welt, in der der Wahnsinn die einzig mögliche menschliche Reaktion auf eine menschenabweisende Welt ist. Der Wahn, so deutet die Inszenierung an, ist die eigentliche Realität, daher kann es am Ende auch kein Entrinnen aus dem Wahn geben: Die Zukunft der Puritaner, vor allem aber die Elviras bleibt offen, und das offene Ende verspricht nichts Gutes.
Ana Durlovski (Elvira), Adam Palka (Giorgio), Edgardo Rocha (Arturo), Gezim Myshketa (Ricardo). Mitglieder des Staatsoperchores. Foto: A. T. Schaefer
Musikalisch ist die Inszenierung gleichfalls weitgehend wie aus einem Guss. Edgardo Rocha gestaltet den Arturo gestisch wie stimmlich als das, was er laut Figurenliste ist: als „Kavalier“, meistert die halsbrecherisch hohen Spitzentöne mit metallischem Glanz und singt mit kavaliershafter Verve; man möchte kaum glauben, dass er der ideale Partner für die verhaltene, fast scheue Elvira von Ana Durlovski sein soll – und in dieser Inszenierung auch nicht wird. Diana Haller gestaltet in ihren kurzen Auftritten die Königswitwe brillant, wie es dieser Dame zukommt, und Adam Palka macht aus dem „Oheim“, der bei Wieler und Morabito die eigentliche, weil menschlich fühlende Vaterfigur ist, fast zu einer kleinen Hauptrolle. Wenn er im Gewand einer die wahnsinnige Elvira pflegenden Krankenschwester deren Schicksal beklagt, dann strahlt er selbst in dem auf den ersten Blick lächerlichen Kostüm Würde und Mitgefühl aus. Und Giuliano Carella brilliert mit dem Orchester der Oper Stuttgart mit einem Reichtum an Zwischentönen, raffinierten Tempoveränderungen und einer adäquaten Mischung aus Innigkeit und Dramatik.
Es braucht keine Callas, um in Bellini den aufregenden Psychodramatiker zu entdecken. Bei Jossi Wieler und Sergio Morabito – und Anna Viebrock, und Ana Durlovski und und und – spürt man sogar den „Soziopsychodramatiker“, bei dem Umwelt und persönliches Schicksal in jeder Beziehung miteinander verknüpft erscheinen.