Da die unterschiedlichsten Musikensembles seit Jahrzehnten bemüht sind, den Klang wiederzufinden, der zu Bachs Zeiten gegolten hat, sollte man meinen, dass die Tradition der Bearbeitungen von Werken des Thomaskantors vorüber sei, doch offenbar fordert ausgerechnet dieser Meister der klaren Form, der Struktur und der Systematik in der Musik Künstler der unterschiedlichsten Gattungen zu neuen Kreationen heraus. Zur 333. Wiederkehr von Bachs Geburtstag hat sich das Museum der Universität Tübingen zusammen mit dem Fachbereich Kunst und Kultur der Stadt Tübingen dem Spektrum der Bearbeitungen gewidmet – und das begann schon sehr früh.
J. S. Bach / F. Mendelssohn-Bartholdy. „Wenn ich einmal soll scheiden“ Choral aus der Matthäuspassion BWV 244. Altstimme für die Aufführung durch Felix Mendelssohn-Bartholdy am 11. März 1829
Eine Seite aus Bachs Matthäuspassion ist das wohl kostbarste Exponat der Ausstellung. Es handelt sich um die originale Handschrift für die Altstimme des Chorals „Wenn ich einmal soll scheiden“ von dem Mann, dem wir die Wiederentdeckung dieser Passion verdanken, die nach Bachs Tod wie seine Musik überhaupt ein wenig in Vergessenheit geraten war. Im 18. Jahrhundert pflegte man aktuelle, damals neue Musik, nicht wie wir in unserem Konzertleben heute ein eher museales rückwärtsgewandtes Repertoire, da gehörten Komponisten nach ihrem Tod leicht zum alten Eisen. Eine Seite zur Matthäuspassion – eine Bearbeitung? Sehr wohl, denn Felix Mendelssohn-Bartholdy war eben nicht nur die Wiederentdeckung zu verdanken, er arrangierte das Werk auch gleich für seine Zeit (und hatte für die von ihm geleitete Aufführung über 100 Sänger zur Verfügung, schon das ein ahistorisches Vorgehen). Wie sehr sich Original und die Mendelssohnsche Fassung unterscheiden, kann man mithilfe von Tonaufnahmen über Kopfhörer nachvollziehen.
Und auch Biographisches kann mit Fug und Recht zu den Bearbeitungen zählen, nicht nur, wenn fiktional Bachs Leben aus der Perspektive von dessen Frau Anna Magdalena erzählt wird, wie es Esther Meynell 1931 tat. Aber auch jede wissenschaftlich fundierte Analyse ist letztlich ein Konstrukt, also eine Bearbeitung, ob sie nun aus der Feder eines Bachinterpreten wie John Eliot Gardiner oder aus der des Bachliebhabers Albert Schweitzer stammt. Der Nekrolog von Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel, die früheste zusammenhängende Darstellung seines Lebens, ist subjektiv, aber nicht weniger auch die von Johann Nikolaus Forkel von 1802, so lange dauerte es, bis eine erste richtige Biographie des großen Thomaskantors erschien. Und auch eine wissenschaftliche Forschungsarbeit von heute ist nicht objektiv. So gerät man in dieser Ausstellung neben einer Erörterung über den Komponisten unversehens auch in eine gedankliche Auseinandersetzung mit dem Thema: Objektivität und subjektive Aneignung. Und dazu gehört – mit einem Augenzwinkern – natürlich auch die äußerst geistreiche und witzige „Biographie“, die der amerikanische Komponist Peter Schickele über P.D.Q. Bach schrieb, den fiktiven 21. Sohn des Thomaskantors.
Vollends subjektiv wird es natürlich, wenn sich bildende Künstler in ihrem Medium mit dem Komponisten auseinandersetzen. Oskar Kokoschka schuf gegenständliche Lithographien zu Bachs Kantate „Oh Ewigkeit du Donnerwort“.
Hans Richter. Zeichnung für den abstrakten Film „Präludium“. Blatt 7 aus der Folge von 10, 1919
Hans Richter widmete sich geometrisch abstrakt dem Thema Fuge, einer zentralen Form in Bach kompositorischem Schaffen.
Diese Zeichnung findet sich in der von Frank Dürr, Christian Fischer und Florian Mittelhammer sehr logisch aufgebauten, zugleich atmosphärisch inszenierten Ausstellung passenderweise neben einem Ausschnitt aus den Thirty two short films on Glenn Gould von François Girard – einer zweifachen Bearbeitung gewissermaßen, gilt diese Hommage doch nicht dem Komponisten, sondern dem Pianisten, der wie kaum ein zweiter mit Bachs Musik identifiziert wird. Die gezeigte Szene passt zu Richters Zeichnung, denn die auf dem Monitor präsentierte Szene ist als Trickfilm ähnlich abstrakt wie Richters Graphik, und Richter plante ja selbst einen Trickfilm über Bach.Dass dann auch Bach selbst im Film erscheint, ist nur konsequent, und als Beispiele für Bach auf der Bühne des Balletts wurden erfreulicherweise nicht die Choreographien von John Neumeier gewählt, sondern von Nacho Duato und Folkert Uhde, die einzelne Themen choreographisch bearbeitet haben, die Beziehung zu Bach haben. Wenn dann schließlich der Text einer Bachkantate auf Video von dem Tübinger Gebärdensprachchor präsentiert wird, erkennt man, wie groß das Spektrum Choreographie ist, die im weitesten Verständnis ja nichts anderes als Ausdruck durch Bewegung, Gebärde und Mimik ist.
Es bleibt noch ein Ausflug in die Literatur. So kann man sich in ein Kabinett der fliegenden Blätter zurückziehen und nachvollziehen, wie sich Dichter dem großen Bach genähert haben – ehrfurchtsvoll wie etwa Hermann Hesse oder Carl Zuckmayer, oder auch ein weniger respektvoll wie Johannes Bobrowski, der den Thomaskantor als unbequemen Mann mit „Stadtpfeifergemüt“ apostrophiert, oder Arne Rautenberg, der ihn in Neonfarben in Miami Beach auftreten lässt. Bachbearbeitungen kennen keine Grenzen.
„Bach bearbeitet“, Schloss Hohentübingen bis 4.11.2018