Eines der berühmtesten Spiegelbilder in der Literatur ist tödlich. Fasziniert von der Schönheit seines Antlitzes, das ihm die Oberfläche eines Sees reflektiert, erkennt der junge Narziss die Unerfüllbarkeit dieser Liebe. So erzählt es Ovid in seinen Metamorphosen, so hat es Caravaggio im 16. Jahrhundert im Bild festgehalten und im 20. auch Salvador Dalí. In einer großen Ausstellung im Sindelfinger Schauwerk könnte der Besucher derzeit in Gefahr geraten, auf den Spuren dieses Narziss zu wandeln, denn hier dreht sich alles um die Spiegelung.
Philosophisch betrachtet ist der Begriff Reflexion keineswegs bedrohlich, beschreibt er doch Sinn und Inhalt philosophischen Tuns, führt zu Fragen nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Person. Gleich zu Beginn der Ausstellung wird der Betrachter auf dieses Phänomen verwiesen. Er steht vor einer großen Spiegelfläche, zwei Quadratmeter groß und sieht – sich selbst. Die Fragen, die er sich dabei stellen könnte, werden ihm allerdings gleich mitgeliefert. Robert Barry hat Wörter auf dem Spiegel anbringen lassen: „personal“, „you“, aber auch „nothing“, „doubt“. Schlichter und zugleich eindringlicher kann man das schillernde Phänomen der Spiegelung kaum mehr umreißen. Barry hätte auch noch ein Fragezeichen anbringen können, denn ob das, was wir da auf der reflektierenden Fläche sehen, tatsächlich das ist, was unser Wesen ausmacht, ist höchst fragwürdig. Zumindest gibt der Spiegel nicht mehr als die optische Fassade wieder – wie auch die großformatigen Fotoporträts von Thomas Ruff, die wie Spiegelbilder wirken: detailgetreu, höchst realistisch, aber doch auch unpersönlich.
Kein Wunder, dass die Frau, die auf einem Gemälde von Astrid Klein vor einem Spiegel sitzt, eher verzweifelt wirkt und das Spiegelbild ignoriert. Jack Pierson verzichtet in derselben Abteilung dieser Ausstellung daher auch völlig konsequent auf eine bildliche Wiedergabe des Ichs, er beschränkt sich darauf, in farbigen Lettern mit unterschiedlichen Schriftarten vier Mal das Wort „Me“ zu malen – auch das ist eine Art der Selbstdarstellung und -bespiegelung. Man könnte diese Nische der Ausstellung die „Identifikationsecke“ nennen. Yasumasa Morimura hat ein Selbstporträt von Rembrandt kopiert – kaum ein Künstler hat derart oft sein eigenes Konterfei auf Leinwand festgehalten wie dieser niederländische Meister, der dazu einen Spiegel als Hilfsmittel verwendete.
Wie inhaltsleer eine reine Reflexion aber sein kann, zeigt daneben eine Figur von Erwin Wurm. Statt eines Kopfes hat sie einen silbernen spiegelnden Kürbis. Ich reflektiere, also bin ich, könnte das sagen. Das Ich allerdings bleibt dabei auf der Strecke, es besteht gewissermaßen nur aus der Umwelt, in der sich diese Figur befindet.
Eine andere Abteilung der Ausstellung könnte man die materialistische nennen. Hier sind Künstler versammelt, die den Spiegel als Kunstmittel, als Arbeitsmaterial verwenden und vorführen, vor allem die Künstler, die unter dem Gruppennamen Zero in die Geschichte eingegangen sind. Für sie reicht manchmal die Spiegelfläche als solche aus – den Rest besorgt der Betrachter, indem er sich spiegelt, nur im Unterschied zu Barry diesmal ohne vorgegebene Wörter, dabei nicht selten auf dem Kopf. Zugleich wird der Betrachter darauf verweisen, dass Spiegelei nichts als Lichtspiel ist. Auch das haben die Zerokünstler in vielerlei Spielarten durchexerziert.
Und wenn gespiegelt wird, dann wird zugleich deformiert. Erstaunlich viele Künstler haben Spiegelflächen zertrümmert und die Splitter in unterschiedlichen Winkeln auf eine Bildfläche montiert. Das Resultat ist ein zerrissener Mensch. „Mirage split“ von Gary Webb lieferte denn auch die Inspiration für den Titel dieser Ausstellung. In Reih und Glied brachte er rechteckige Spiegel in unterschiedlichen Neigungen an – ein in sich kohärentes Weltbild ist nicht möglich, die Welt als Inbegriff der Zerrissenheit tritt uns entgegen.
Und man reflektiert alsbald über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Bildwiedergabe mittels Spiegelung. Denn was uns da – nicht selten in Form unserer eigenen Gestalt – als Bild entgegentritt, ist in Wirklichkeit ja nicht ein vom Künstler gestaltetes Bild. Der Spiegel selbst ist inhaltsleer, wie Michelangelo Pistoletto demonstriert hat. Er hat lediglich einen runden, von Holz umrahmten Spiegel auf den Boden gelegt. Erst wenn wir uns ihm nähern, füllt er sich mit Inhalten – der Konstruktion der Decke, uns selbst, wenn wir uns darüber beugen. Der Künstler hat gewissermaßen nur die Möglichkeit in den Raum gesetzt, dass ein Bild entstehen kann. Für das Bild selbst, also den Inhalt, müssen wir sorgen – und wir können gar nicht anders, was letzten Endes heißt, wir selbst verwandeln uns zumindest zeitweise in Narziss, ob wir wollen oder nicht.
„Split – Spiegel. Licht. Reflexion“, Schauwerk Sindelfingen bis 3. 10. 2017