Schuld ist, wie so oft in der griechischen Mythologie, der Trojanische Krieg. Bereitwillig übernimmt Agamemnon den Oberbefehl über die Griechen, um die Gattin seines Bruders Menelaos aus Troja wieder heimzuholen. Doch weil der Wind für die Seereise fehlt, opfert er seine Tochter Iphigenie. Das wird ihm zum Verhängnis, denn siegreich zurück vom Krieg wird er wegen der Opferung Iphigenies von seiner Frau Klytemnästra und deren Geliebten Aegisth getötet. So die Vorgeschichte von Richard Strauss‘ Oper Elektra.
Agamemnon also ist tot, wenn die Musik erklingt, und doch ist er von den ersten Tönen an präsent. Im Fortissimo schleudert das Orchester ein Viersilbenthema in den Raum – jenes Thema, mit dem Elektra, Agamemnons zweite Tochter, bei ihrem ersten großen Auftritt ihren toten Vater anruft. Wie ein Leitmotiv durchziehen diese vier Töne die Oper und machen Agamemnon so zum Motor des ganzen Geschehens, denn seinen Tod wird Elektra zusammen mit ihrem Bruder Orest durch den Tod der beiden Mörder ihres Vaters rächen. So lässt folgerichtig Regisseur Peter Konwitschny in seiner Stuttgarter Inszenierung den Mord an Agamemnon auf der Bühne spielen. Es ist zunächst eine idyllische Familienszene: Agamemnon spielt mit seinen Kindern Elektra, Orest und Chrysothemis im Badezimmer. Man ist ausgelassen, Schwimmflügel gehören zu diesem Spiel ebenso wie ein Kriegsschiff aus Plastik. Dann werfen Klytemnästra und Aegisth ein Netz über Agamemnon und erschlagen ihn mit einem Beil. Der kleine Orest und seine Schwester Chrysothemis fliehen, Elektra ist entsetzt. Agamemnon wird die ganze Zeit über auf der Bühne präsent sein, so wie sich sein Tod in Elektras traumatisiertem Geist unauslöschlich eingegraben hat.
Konwitschny ist bekannt dafür, dass er die Texte und Partituren ganz genau liest. So ist zwar Elektra getrieben vom Rachegedanken, aber sie führt ihn nicht aus, sie sucht sich Täter, am Ende wird es Orest sein, Elektra ist für Konwitschny im Grunde eine Marionette. Aber auch ihre Mutter Klytemnästra ist nicht Herrin ihrer selbst, sie ist gepeinigt von Schuldgefühlen, die sie durch Tieropfer beseitigen will; Konwitschny inszeniert das Psychogramm einer Frau, die am Ende ist, ein Opfer ihrer eigenen Tat, noch ehe sie für diese Tat ermordet wird: Sie raucht hektisch, trinkt.
Rebecca Teem (Elektra), Simone Schneider (Chrysothemis)
Und auch am Ende hat Konwitschny genau die Partitur studiert. Bei Richard Strauss tanzt da Elektra in ihrem Triumph, denn der Mord an ihrem Vater Agamemnon ist gerächt, wenn auch nicht sie, sondern Bruder Orest die Mörder ihres Vaters getötet hat. Konwitschny aber sieht in dem von Blechbläsern martialisch intonierten Schluss alles andere als einen Jubelschrei. So bricht bei ihm Elektra nicht einfach tot zusammen, wie es das Libretto vorschreibt, bei ihm schießen die neuen Machthaber gleich das ganze Volk zusammen, Elektra und Bruder Orest eingeschlossen – und feiern das Ganze zugleich mit einem gewaltigen per Video eingeblendeten Feuerwerk.
Der Einzelne, das macht diese Szene deutlich, zählt im Machtspiel dieser Welt nicht; mag die Rache Elektras an den Mördern ihres Vaters eine private Tat sein, so ist sie doch zugleich auch Ausdruck einer Mentalität der ganzen Gesellschaft.
Diese Rache kommt, so macht Konwitschny deutlich, zwangsläufig, denn kaum ist Agamemnon im Vorspiel erschlagen, läuft hinten an der Bühne eine Digitaluhr – aber rückwärts: Das ist der Countdown bis zum Mord an Klytemnästra. Danach könnte der Fall eigentlich ad acta gelegt werden: Die Rache ist vollendet. Aber wie gesagt: dann lassen die neuen Machthaber das ganze Volk beseitigen – und wieder taucht die Uhr auf, diesmal vorwärts laufend, und rasend schnell.