Sein Leben liest sich wie eine Erfolgsgeschichte: Dem 1873 geborenen Ford Madox Ford, der eigentlich Ford Hermann Hueffer hieß, schien alles zu gelingen, was er anpackte. Mit neunzehn schrieb er seinen ersten Roman, mit fünfundzwanzig arbeitete er mit Joseph Conrad zusammen an zwei Romanen, er gründete die English Review und förderte Autoren wie D.H. Lawrence, Wyndham Lewis und Ezra Pound, später auch Joyce und Hemingway. Aber nach seinem Tod 1939 geriet er im Gegensatz zu den von ihm Geförderten weitgehend in Vergessenheit. Doch mit einem Roman zumindest hat er sich bleibenden Ruhm verdient, einem Roman, der von Graham Greene immer wieder gelesen und von Ruth Rendell in höchsten Tönen gelobt wurde: Die Allertraurigste Geschichte.
Ford Madox Ford. Die allertraurigste Geschichte. Diogenes Verlag
Es beginnt wie eine Idylle. Da treffen sich zwei Ehepaare bei einer Kur in Bad Nauheim, freunden sich an und treffen sich immer wieder – neun Jahre lang. Die Lebensverhältnisse sind angenehm, arbeiten muss hier niemand, es gilt das Leben so angenehm zu verbringen, wie man kann, und die Umstände sind günstig: Leonora liebt ihren Mann, den Major Ashburnham, und Dowell, der uns diese Geschichte erzählt, vergöttert seine Florence.
Zugegeben, über beiden Ehepaaren schwebt ein Schatten: Edward ist schwerkrank und Florence ebenfalls, sie werden beide von ihren Gatten umhegt, in Watte gepackt. Wenn jetzt die beiden Invaliden stürben, könnte man die Charakterisierung, die der Erzähler seiner Geschichte gibt, verstehen: allertraurigst. Am Ende sind Florence und Edward denn auch tot – aber nicht wegen ihrer Invalidität. Denn so schwach, wie sie hingestellt werden bzw. sich hinstellen, sind beide nicht. Und auch die Idylle, bzw. das „Menuett“, das die vier über so viele Jahre hinweg aufführen, wird bereits nach wenigen Seiten als Gefängnis bezeichnet. Denn die Geschichte, die Dowell uns erzählt, entwickelt sich nicht zu einem Höhepunkt, einer Tragödie oder einer Katharsis – sie entwickelt sich in lauter Widersprüche. Ist Edward, der in jeder Beziehung als Inbegriff des englischen Gentleman erscheint, als der „gute Soldat“ – so der Originaltitel, den der Verleger gegen Fords Wunsch, sie bereits auf dem Cover als allertraurigst zu bezeichnen, durchsetzte -, in Wirklichkeit nicht eher das Gegenteil davon? Seite für Seite dringen neue Details an die Oberfläche, die ihn mal als Lügner, mal als Bankrotteur, mal als Schürzenjäger entlarven. Auch Leonora, die gutmütig die Krankheit ihres Gatten erduldende Ehefrau zu sein scheint, ist alles andere als ein sanftmütiges Lamm. Und auch Florence ist nicht die durch ihre Krankheit geschwächte Schutzbedürftige, sondern eine berechnende, kalte Frau, die ihre Krankheit nur vorgaukelt, um die Ehe mit dem sie anbetenden Dowell nicht vollziehen zu müssen.
Ford hat eine raffinierte Geschichte geschrieben, in der alle Gewissheiten, die zu Beginn angelegt werden, Schritt für Schritt nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden, sondern sich als fragwürdig entpuppen. So wird dem Leser Seite für Seite der Boden entzogen. Der Lieblingssatz des Erzählers Dowell lautet: „Ich weiß nicht“. Das, was Jahrhunderte über in der Romanliteratur als zwar subjektive, aber doch zumindest in Grenzen vertrauenswürdige Quelle eines Romans galt – der Ich-Erzähler – wird hier seiner eigentlichen Funktion beraubt. Dowell erzählt nicht eine Geschichte, hier nimmt der Erzähler seine Geschichte ständig zurück. Am Ende weiß der Leser gar nichts – ist sich nicht einmal seines zwischenzeitlich gewonnenen Eindrucks sicher, Florence und Edward seien kalt und zielstrebig im Durchsetzen ihrer Begierden, denn als Florence, die jahrelang mit Edward ein Verhältnis hat, entdecken muss, dass er eine andere liebt, nimmt sie sich das Leben, wie auch Edward, als er entdecken muss, dass auch seiner Liebe Grenzen gesetzt sind.
Der Leser wird in einen Sog der immer undurchschaubaren Widersprüche gezogen – einen Sog, der bereits im ersten Satz beginnt: „Dies ist die allertraurigste Geschichte, die ich je gehört habe“ – das klingt nach einem Joseph Conrad, der seine Romane oft von einem Erzähler vortragen lässt. Doch bei Ford ist der Erzähler nicht unbeteiligter Übermittler einer Geschichte, die er angeblich nur vom Hörensagen kennt, dieser Erzähler ist vielmehr selbst Beteiligter, ist mitten in der Geschichte.
Ford hat hier einen Roman geschrieben, der vom Erzählduktus her im 19. Jahrhundert wurzelt. Doch in Wirklichkeit hat er in der Struktur des Romans die zunehmende Unsicherheit des Weltbildes in der Moderne aufgegriffen, als hätte sich Albert Einstein neben Ford an den Schreibtisch gesetzt, als dieser seine „allertraurigste Geschichte“ schrieb.
Ford Madox Ford. Die allertraurigste Geschichte. Diogenes Verlag, 320 Seiten, 29 Euro