Der Mensch im 20. Jahrhundert. Zum Schaffen des Bildhauers Roland Martin

Ein Handwerksbursche aus dem 19. Jahrhundert steht vor der Kreissparkasse Tuttlingen. Es ist eine Bronzefigur des Bildhauers Roland Martin. Mit offenem Mund steht er da und blickt verständnislos in die Höhe, und von dort blicken ihm von einer Brüstung aus Figuren unseres Jahrhunderts zu. Diese Kombination von Einzelfigur und Gruppenbild ist charakteristisch für die Figurenplastiken von Roland Martin. Eine Retrospektive in der Städtischen Galerie seines Heimatortes Tuttlingen zeigt jetzt fünf Jahrzehnte seines Schaffens, und das stand keineswegs nur im Dienst der Figur.

Roland Martin_Retrospektive_Städt. Galerie Tuttlingen_24.10. bi

Sitzende Josefine,1987. Sitzender auf Stuhl, 2001. Foto Horst W. Kurschat

Große wellige graue Reliefs empfangen den Besucher der Ausstellung, Arbeiten aus den 60er Jahren, als Martin seine Antwort auf die abstrakten Tendenzen der Nachkriegskunst gefunden hatte. Sie wirken wie Gebilde, die das Meer aus den Steinen herausgeschliffen hat – Relikte der Natur, die doch hochgradig künstlich sind. Sie bestehen nicht aus Stein, sondern sind in Beton gegossen – dem Baustoff der Wirtschaftswunderzeit der jungen Bundesrepublik. Natürliche Formensprache und der Stoff, aus dem die Hochhäuser der damaligen Zeit waren, gingen in solchen Arbeiten eine Synthese ein.

Und Martin reagierte weiter auf die Entwicklungen seiner Zeit. In den Jahren des wirtschaftlichen Aufbruchs und der Entwicklung der Raketentechnik wandte er sich technoiden Formen zu. Aus Plexiglas und Aluminiumplättchen schuf er hohe Stelen, die in sich gedreht waren.

Roland Martin_Retrospektive_Städt. Galerie Tuttlingen_24.10. bi

 

Schichtungen, Aluminium und Plexiglas, 1976 / 1978. Foto Horst W. Kurschat

Das Licht fängt sich in den in sich gedrehten Säulen – eine solche Licht-Raum-Stele schuf er 1972 für das Olympiagelände in München. Doch dann bewegte sich sein künstlerisches Denken wieder auf die Figur zu, mit der er – ein Schüler des Bildhauers Fritz Nuss – in den 50er Jahren angefangen hatte. Die Figuren, die ab den 70er Jahren entstanden, hatten allerdings nichts mit der klassischen Skulptur zu tun. Martin baute seine meist in die Länge gezogenen Figuren aus vielen Metallplatten auf, die Nahtstellen sind deutlich sichtbar. Parallel dazu entwickelte er Kleinplastiken. Dafür knetete er lauter kleine Wachsklümpchen zu Beinen, Armen, Rumpf und Kopf. Die Figuren lassen keinerlei Physiognomie erkennen, es sind Grundformen des Menschen im Alltag.

So entstehen archetypische Symbolformen: Der „Wartende“ spielt eine große Rolle in Martins Schaffen, ebenso das Thema „Angst“. Immer häufiger kombinierte er mehrere solche Figuren zu Gruppen, wie man sie wie im Alltag unserer Städte antreffen kann, stets aber bleiben die Figuren für sich, jede ein Individuum, auch und gerade in der Gruppe, der Masse. Oft lässt Martin seine Figuren in Interaktion mit einer künstlich gestalteten Umwelt treten: Sie halten sich in Gerüsten fest, balancieren auf einem Rad – Symbol für die Unwägbarkeit des Lebens. Roland Martins bildhauerisches Werk insgesamt ist das Bild der condition humaine, eines Menschen, der unsicher ist, bedroht, und doch voller Selbstvertrauen.

Roland Martin. Retrospektive. Galerie der Stadt Tuttlingen. 78532 Tuttlingen, Rathausstraße 7. Bis 22.11.2015 Dienstag bis Sonntag 11-18 Uhr

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