Der Betrachter als Narziss? Christian Megert im Museum Ritter

In der Regel sollte der Besucher einer Kunstausstellung von sich selbst absehen. Er sollte sich ganz auf das Gegenüber des Kunstwerks einlassen, versuchen, die Kompositionskriterien nachzuverfolgen, die inhaltlichen Aussagen zu erfassen. Es gilt das Werk, nicht das Ich. Ganz anders bei dem Schweizer Christian Megert. Er arbeitet nicht mit Ölfarbe, Holz oder Stahl, er arbeitet mit Spiegeln. Ihnen kann der Betrachter der Werke nicht entgehen, er ist stets mit sich selbst konfrontiert. Und Megerts Werke sind – auch wenn sie wie Reliefs wirken – weder Bilder noch Skulpturen, sondern Räume – Räume der besonderen Art.

In einem Halbkreis aus zahlreichen langen, mehrere Meter hohen Spiegeln reflektiert sich der Raum – allerdings nicht wie in einer großen Spiegelfläche, sondern fragmentiert in mehrere kleine Spiegelbilder. Davor hängt in luftiger Höhe ein Mobile aus runden Gläsern, die auf einer Seite schwarz eingefärbt sind und auf der anderen in Spiegel verwandelt wurden.

Auch sie fangen Teile des Raums ein, und wenn sich durch Zufall die Spiegelflächen dem Spiegelhalbkreis zuwenden, werden in dieser Fläche noch einmal Teile des Raums reflektiert.

Es ist eine der komplexesten Arbeiten von Christian Megert und vereint nahezu alle Perspektiven seines Schaffens. Zum einen ist da die Verlängerung des Raums ins Unendliche, denn die Spiegelbilder spiegeln sich wieder und wieder, der Raum scheint kein Ende zu finden, sich geradezu zu entgrenzen. 1961 schrieb Megert in einem Manifest, er wolle einen völlig neuen Raum schaffen – ohne Anfang und ohne Ende.

Zugleich aber wird dieser Raum durch die immer neuen Spiegelungen in lauter Einzelteile aufgelöst, er wird fragmentiert. Megert gelingt so die Quadratur des Kreises: Er entwirft mit seinen Spiegelarbeiten die Illusion einer Unendlichkeit und löst diese Unendlichkeit zugleich in lauter Einzelteile auf: Der Raum wird zum Bild. Diese Fragmentierung hat er von Anfang an in sein Schaffen mit einbezogen. Megert verwendete nicht intakte Spiegel, sondern Spiegelscherben. Diese Scherben klebte er in unterschiedlichen Winkeln auf seine Bildträger – und hatte die Fragmentierung der Welt ins Bild gefasst.

Das könnte chaotisch wirken, doch dem wirkt Megert durch strenge Bildformate entgegen. Meist sind seine Arbeiten quadratisch oder kreisrund. So stabilisiert er die verwirrende Vielfalt der Spiegelfragmente – Ordnung und Chaos gehen eine Verbindung ein.

Damit nicht genug: Nicht nur der Raum spiegelt sich, sondern auch der Mensch im Raum, der Betrachter. Wie er sich auch positioniert – irgendein Spiegelscherben wird ihn immer erfassen, in irgendeine Richtung spiegeln, und dieses Spiegelbild wird dann von anderen Spiegelarbeiten vervielfacht. Die Ausstellung im Museum Ritter zeigt auf diese Weise ein faszinierendes Spiel von nicht enden wollenden Spiegelungen unterschiedlichster Spiegelarbeiten.

So sind Megerts Arbeiten geradezu philosophische Auseinandersetzungen mit Fragen nach Welt und Wahrnehmung.

megertscherben

Christian Megert. Runder weißer Scherben, 2014 © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Niemand kann die Welt in ihrer Totalität erfassen – Megerts Spiegelscherben sind der Bild gewordene Ausdruck dieser Beschränkung menschlicher Wahrnehmung. Zugleich ist das menschliche Auge ständig auf Wanderschaft, auf der Suche nach einer möglichst vollständigen Erfassung des Raums, und das Gehirn setzt diese synthetisierende und sich ständig ergänzende Arbeit fort – Megerts unendlich scheinende Spiegelräume lassen diesen unablässig im Zeitkontinuum verlaufenden Prozess in einem einzigen Zustand des Kunstwerks gerinnen.

Und Megert entdeckt Spiegelmöglichkeiten allenthalben. Glänzend polierte Steine sind nichts anderes als Spiegelflächen. Die Ausstellung zeigt einen Würfel aus Granit, aus dem Megert einen kleineren Würfel ausgesägt hat. Die Plastik ist außen grob behauen, von Spiegelung keine Spur. Das Innere aber ist glatt poliert. Blickt man in diesen Würfel, sieht man sein Konterfei reflektiert. Auch hier geht der Betrachter ein in das Kunstwerk.

Eine solche vielschichtige Subtilität erreicht er in seinen neueren Arbeiten nicht mehr in demselben Ausmaß. Ab den 80er Jahren integrierte Megert Farbe in seine Spiegelarbeiten. Entweder färbte er die Spiegelflächen ein – und machte damit den im Spiegel reflektierten Raum (und Betrachter) farbig -, oder er spannte transparente bunte Gazestoffe in seine Spiegelarbeiten. Das sind ästhetisch reizvolle Gebilde, doch die philosophische Tiefe der früheren Arbeiten erreichen sie nicht. Manchmal erzielt die Kunst eben mit den einfachsten Mitteln die größten Wirkungen. Bei Megert braucht es nur Spiegelscherben, den Raum und den Betrachter. Alle drei Komponenten werden durch seine Arbeiten zur Einheit verschmolzen.

Christian Megert. Ohne Anfang und Ende. Museum Ritter, Alfred Ritter Straße 27, 7111 Waldenbuch, bis 17.4.2016. Katalog Verlag Das Wunderhorn. 64 Seiten, 19.80 Euro

Werke aus 6 Jahrzehnten“ zum 80. Geburtstag von Christian Megert zeigt die Galerie Walandt, Hölderlinstrasse 55, 70193 Stuttgart bis 5. März 2016

Zu Christian Megert findet sich ein Film von Horst Simschek und mir auf Youtube:

https://www.youtube.com/watch?v=w-zxGG0OBn8

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