Es geht um die Frage: der Einzelne oder der Staat, Humanität oder Gesetz, Flexibilität oder Buchstabentreue: Als Sophokles im alten Athen seine Antigone auf die Bühne brachte, traf er mit solchen Fragen ins Herz der athenischen Demokratie, die noch bedroht war von Gegnern wie den mächtigen Persern oder den strengen Spartanern. Aber die Fragen haben bis heute Gültigkeit, weshalb gerade dieses Drama vielleicht vor all den anderen aus dieser Zeit bis heute an Aktualität nichts verloren hat, zumal die konträren Positionen jeweils einiges für sich haben. Der Philosoph Slavoj Žižek hat genau dies in seinem Stück Die drei Leben der Antigone aufgegriffen und sich der weit verbreiteten positiven Deutung der Antigone entgegengesetzt. Jetzt hat Leo Dick im Auftrag der Jungen Oper Stuttgart, die seit ihrem Umzug ins Probenzentrum Nord JOIN heißt (Junge Oper im Nord) daraus eine Oper komponiert.
Am Ende liegen Antigone und Kreon tot am Boden. Haimon, Antigones Verlobter und Kreons Sohn, trauert, und der Chor ist fassungslos. So hat er sich den Ausgang nicht vorgestellt. Das ist nicht das Ende von Sophokles‘ Antigone. Bei ihm wird die Titelheldin auf Befehl des Herrschers Kreon lebendig eingemauert, weil sie sich Kreons Befehl, ihren Bruder Polyneikes, der sich gegen die Stadt Theben erhoben hatte, den Tieren zum Fraß zu überlassen, anstatt ihn zu beerdigen, widersetzt hatte.
Der Tod der beiden Kontrahenten ist das Ende von Slavoj Žižeks Stück. Es ist gewissermaßen eine Versuchsanordnung mit klassischem Dramenmaterial. Žižek misstraut der Heldenverehrung, die Antigone im Lauf der Jahrtausende oftmals erfahren hat, fragt nach, ob nicht auch Kreon mit seinem Festhalten am Gesetz Recht haben oder welche Realisierungsform am besten zum Segen der Menschheit gereichen könnte. Und so stellt er sich nach der ersten, an Sophokles angelehnten Version vor, die beiden Kontrahenten hätten sich auch einigen und versöhnen können. Doch da begehrt das Volk auf, verkörpert durch den Chor, und Kreon wird getötet.
Die dritte Möglichkeit wäre eine Regierung aller durch alle, also eine Volksherrschaft. Sie würde der Willkür eines einzelnen Herrschers entgegenwirken, bedeutet aber nicht unbedingt ein glückliches Ende. Hier sind beide Protagonisten tot.
Dieses mehrfache Spiel „Zurück an den Start“ hat Komponist Leo Dick mit einem einfachen, aber raffinierten, subtilen Kunstgriff realisiert. Er lässt die Musik in einem rasenden Zeitraffer zurückspulen, was durch den Einsatz von Elektronik gespenstisch anmutet. Regisseurin Blanka Rádóczy hat dieses Strukturelement ihrerseits perfekt umgesetzt. Antigone, eben noch tot am Boden, erhebt sich langsam, der Chor begibt sich in die Anfangssituation zurück.
Wenn die Musik dann zum zweiten Deutungsversuch ansetzt, wiederholt auch sie sich, aber in leichter Variation. Dick spielt immer wieder mit Wiederholung, gewissermaßen mit dem Gedächtnis der Geschichte, das stets die Vorgeschichte präsent hält, die in diesem Fall ja Auslöser des tragischen Geschehens ist. Gab es zu Beginn der Oper einen strengen Trommelwirbel, der durch ein Trompetensignal kriegerische Assoziationen hervorgerufen hatte, ist der Trommelwirbel nun nicht ganz so martialisch, die ergänzenden Instrumente sind weicher – und entsprechend begegnen sich auf der Bühne nun Kreon und Antigone sehr viel persönlicher.
Im dritten Teil dominiert der Chor, und die Musik gerät in den Hintergrund, denn der Chor ist eine Sprechpartie. Logischer kann man das musikalisch und szenisch formal kaum realisieren. Das Wesentliche ereignet sich in der Variation, die die Wiederholung zu einem gänzlich Neuen macht.
Carinna Schmieger (Antigone),Chor der Bürger*innen. Foto: Martin Sigmund
Und auch die Positionen werden plastisch herausgearbeitet. Marschiert der Chor zu Beginn noch nach dem Rhythmus des Herrschers Kreon, so beginnt er alsbald, sich Antigone zuzuwenden, und Regisseurin Blanka Rádóczy lässt sie wie eine Demagogin mit der Menschenmenge spielen. Sie ermuntert gestisch die Menge, ihr zu akklamieren, was diese andererseits nicht hindert, auch Kritik zu artikulieren: Antigone sei noch am Leben und stricke bereits an ihrem eigenen Mythos. Ganz eindeutig gut oder böse sind die Positionen in diesem Spiel nie, aber sie sind deutlich voneinander unterschieden. Für Antigone findet Dick lang ausschwingende Kantilenen, die eher ihr Herz zum Ausdruck bringen, weniger eine Ideologie. Carina Schmieger gestaltet das selbst in den hochdramatischen Stellen stets lyrisch klangschön. Aber auch der Kreon von David Kang ist kein kalter Technokrat. Mit seinem warmen Timbre verleiht er der Figur durchaus auch menschliche Züge, die allerdings durch den Deklamationsstil, den Komponist Dick ihm zugeordnet hat, zurückgenommen werden. Hier stehen allein durch die musikalische Gestaltung zwei unterschiedliche Mentalitäten auf der Bühne.
Die Konfrontation zwischen den Protagonisten im ersten Teil ist auch musikalisch plastisch herausgearbeitet. Für die sieben Instrumente des kleinen Orchesters findet Dick zum Teil harsche Klänge. Geigenbögen kratzen auf Holz, Dissonanzen schwellen geradezu körperlich im Raum auf, die Klänge werden immer wieder elektronisch aufgegriffen und als Hall der Livemusik unterlegt, so wie ein Gedächtnis an das Vorangegangene, das die Gegenwart prägt. Dicks Musik ist auf subtile Weise symbolisch. Im zweiten Teil, wenn die Parteien einander annähern, verzichtet er ganz auf Sprache, lässt die beiden Sänger stellenweise nur den Buchstaben „A“ singen, mehr braucht es nicht zum Ausdruck von Harmonie und Gleichgestimmtheit. Wenn sich am Ende das Volk zur Herrschaft aufschwingt, kommen Vuvuzelas zum Einsatz mit ihrem aggressiven Ton.
Regisseurin Blanka Rádóczy hat für dieses Stück eine Endzeitbühne bauen lassen aus Holzbarrieren und zerbröckelnden Stahlbetonmauern. Einen Ausweg aus dieser Welt gibt es nicht – und auch keine Lösung der Frage nach Recht und Unrecht. Die Wahl bleibt dem Zuschauer überlassen – Oper als Denkanregung.
Leider hat Dick, von dem zusammen mit der Regisseurin auch das Libretto stammt, das Teile von Žižeks Drama mit weiteren Texten kombiniert, die ganze Vorgeschichte und Rechtfertigung Kreons en detail ausspielen lassen, was durch den zum Charakter Kreons so gut passenden abgehackten Deklamationsstil mit großen Tonsprüngen noch gedehnt wird. Hier hätte er deutlich straffen müssen. Dann wäre sein Stück zwar auf eine starke Stunde geschrumpft, aber durch die Präzision und Konzentration der Komposition zu einem veritablen Meisterwerk geworden.