Homer ließ seinen Helden quer über das Mittelmeer segeln, mit Riesen kämpfen, sich gegen verführerische Frauen zur Wehr setzen und von einer Zauberin bezirzen lassen. Dafür brauchte er mehrere hundert Seiten. Ungleich mehr, knapp tausend Seiten, benötigte Thomas Mann einzig mit der Schilderung dessen, was ein junger Mann über mehrere Jahre hinweg in einem Lungensanatorium erlebt. Literatur braucht keine großen Inhalte, sie kommt mit der Schilderung einiger Kleinigkeiten aus. Das gilt auch für die Bücher von J. L. Carr, die Titel wie Ein Tag im Sommer oder Ein Monat auf dem Land tragen. Trotzdem waren sie erfolgreich, der Monat wurde sogar mit Schauspielern vom Rang eines Colin Firth und Kenneth Branagh verfilmt. Nur in Deutschland suchte man seine Bücher bislang vergebens. Jetzt ist der Monat auf dem Land auf deutsch erschienen – mit fast vierzigjähriger Verspätung.
Vielleicht liegt diese Verspätung daran, dass das Buch tatsächlich nicht mehr enthält, als der Titel nahelegt: Die Erlebnisse eines jungen Mannes kurz nach dem 1. Weltkrieg auf dem Lande, und die bestehen darin, ein altes Kirchenwandgemälde freizulegen und zu restaurieren und den einen oder anderen Einheimischen kennenzulernen, so wie man Fremde eben in ein paar Wochen kennenlernen kann. Carr beschreibt das einfache Leben, und das ist bar jeder weltbewegenden Ereignisse.
Was nicht heißt, dass es auch bar jeglicher tiefer Emotionen wäre. Carr schreibt keine märchenhafte Idylle, obwohl der Held Jahrzehnte nach diesem Sommer, als er seine Erinnerungen daran niederschreibt, voller nostalgischer Bewunderung für jene Zeit ist. Carr schreibt einen realistischen Roman, in dem der Weltkrieg Spuren in den Überlebenden hinterlassen hat – Tom Birkin, der Restaurator, hat aus dem Krieg ein Trauma nach Hause gebracht, das sich in einem Zucken des Gesichts äußert, und ist von seiner Frau betrogen und verlassen worden – und der Alltag hart und entbehrungsreich ist.
So beginnt seine Schilderung denn auch nahezu apokalyptisch. Der Held verlässt den Zug im kleinen Städtchen Oxgodby nicht einfach, er stolpert gleich im ersten Satz auf den Bahnsteig, der strömende Regen macht ihn bis auf die Knochen nass, und was er dann als Domizil für die nächsten Wochen antrifft, ist ein kalter Kirchturm als Übernachtungsort mit einem spuckenden uralten Herd und kargen Mahlzeiten, und das Gemälde, das er restaurieren soll, handelt vom Jüngsten Gericht. Und doch kehrt sich diese düstere Anfangsatmosphäre bereits nach wenigen Seiten um. Vom Stationsvorsteher liegt bereits eine Einladung zum Tee vor, er hat einen Archäologen kennengelernt, der unweit der Kirche eine Ausgrabung macht – kurz: Er war bereits „zu Jemandem geworden”.
Was nun folgt, ist eine langsame Wanderung durch die langen Tage, erfüllt von einer Auseinandersetzung mit einem Wandgemälde, das den Helden zunehmend in seinen Bann zieht, der Begegnung mit der ein wenig vorlauten und frühreifen Tochter des Stationsvorstehers, einer sanft aufkeimenden Zuneigung zur Frau des Pfarrers, die sich – im Unterschied zu ihrem verknöcherten Ehemann – als „umwerfend” entpuppt.
Das alles geschieht ohne große Emotionen, scheinbar zufällig. Carr schildert Normalität und vollbringt dabei das schriftstellerische Wunder, dass eben diese Normalität den Hauch von etwas Besonderem erhält. Ein Ausflug an einem warmen Sommertag auf einem Pferdewagen – wir befinden uns schließlich in der so genannten guten alten Zeit, in der alles doch ungleich beschwerlicher war als in der Moderne – wird zum Highlight, der Kauf eines Harmoniums zur großen Herausforderung und der Besuch eines Methodistengottesdienstes für den vom Glauben abgefallenen Birkin zum tiefen Erlebnis. Stets mischt Carr idyllische Momente mit krasser Realität, auch der Tod fehlt in diesem sommerlichen Monat auf dem Land nicht. Wir Leser lernen mit Birkin eine Gruppe zum Teil schrulliger, zum Teil einfach liebenswerter Menschen kennen, von denen wir am Ende meinen, sie selbst kennengelernt zu haben, selbst jeden Morgen im Erdloch des Archäologen Tee getrunken und uns die altklugen Bemerkungen der jungen Kathy Ellerbeck angehört zu haben. Mit ruhigen Sätzen, scheinbar beiläufig, erzählt Carr vom Glück in den einfachen Dingen, vom Leben Tag für Tag, das ganz bodenständig und zugleich doch auch besonders ist. 150 Seiten dauert dieser „Monat” auf dem Land, er offenbart einen ganzen Kosmos, er macht Leben spürbar. Fragt sich nur, warum deutsche Verlage erst jetzt, fast ein Vierteljahrundert nach dem Tod des Autors, diese kleine Kostbarkeit entdeckt haben. Aber besser so spät, als nie.
J. L. Carr, „Ein Leben auf dem Land”. DuMont Verlag, 144 Seiten 18 Euro.