Es gibt ihn matt und glänzend, in allen erdenklichen Farben – Lack: Er schützt Oberflächen, macht sie für die Berührung angenehm und bringt Farbe in unser Leben. Genau genommen ist er freilich nichts als Oberfläche, Tünche, die das Darunterliegende verbirgt. Lenkt er damit vom Wesentlichen ab – oder ist er vielleicht das Wesentliche? Diese Fragen kommen einem vor den Arbeiten von Willi Siber in den Sinn, die derzeit in der Städtischen Galerie Fähre in Bad Saulgau zu sehen sind.
Die wie riesige künstliche bunte Kiesel aussehenden Objekte wirken, als wären sie aus farbigem Kunststoff, und auch ein Blick auf die Legende daneben scheint diesen Eindruck zu bestätigen: „MDF, Glanzlack geschliffen“ ist da zu lesen, doch „MDF“ ist nichts anderes als eine Holzfaserplatte. Die Arbeiten von Willi Siber, zumal die der letzten Jahre, sind ein Spiel mit dem Wesen der Dinge und dem Eindruck, den sie auf uns machen, allgemeiner ausgedrückt: mit Inhalt und Oberfläche. Die Oberfläche besteht bei ihm meist aus Lack – Chromlack, Interferenzlack oder Epoxy, also Kunstharz.
Wesentlich bei diesen Objekten ist das Spiel mit innen und außen, dem Kern und der Lackierung, und die Lackierung macht das Wesen dieser Arbeiten aus. Immer wieder fragt sich der Betrachter, woraus die Plastiken wohl sind, aus Kunststoff, Metall oder Holz. Vor allem aber: Was ist das Eigentliche? Der Kern – man könnte auch sagen: die Essenz – oder das Äußere, die Hülle? Bei vielen seiner Objekte fallen diese beiden Aspekte eines Gegenstandes zusammen. Die Oberfläche ist bei diesen Arbeiten das Wesen der Dinge.
Dabei spielt Siber spielt häufig mit unterschiedlichen Aspekten ein und derselben Sache. So meint man, zwei weiße Kunststofftafeln einfach zusammenklappen und aufeinanderlegen zu können. Doch aufeinanderlegen kann man sie nicht. Sie sind symmetrisch angelegt, aber nicht spiegelbildlich. Es handelt sich vielmehr um die Positiv- und die Negativform desselben formalen Gebildes. Man meint, ein Kunstwerk vor sich zu haben, dessen Sinn und Aussage man auf den ersten Blick versteht, und wird schon beim zweiten Hinsehen verwirrt.
Dieses Spiel mit Zweideutigkeiten, mit etwas scheinbar leicht Erkennbarem, das sich aber doch einer Festlegung immer wieder entzieht, setzte schon früh in seinem Schaffen ein. An zwei Arbeiten, die Siber noch als Schüler gemalt hat, wird deutlich, wie schnell er sich von konventionellen allerersten Bildern zu einer ganz eigenen Bildsprache entwickelte, die sich von der Verhaftung im Gegenständlichen immer weiter löste. So zeigt eine Schülerarbeit von 1965 einen zwar technisch souverän, formal aber recht traditionell porträtierten Blumenstrauß. Zwei Jahre danach, Siber ging immer noch zur Schule, war er bereits weit in Richtung Abstraktion vorangeschritten. Ein Bild des Achtzehn-Jährigen ist eine aus wilden, dicht ineinander verschränkten Linien bestehende Studie, die nur an einigen Stellen Assoziationen an Gliedmaßen und Knochen ahnen lässt, was möglicherweise erst durch den Titel dem Betrachter nahegelegt wird: „Geschlachtetes“.
In den Achtzigerjahren – Siber war da Mitte dreißig – hatte er einen ganz eigenen Bildstil entwickelt, der in einer Gratwanderung zwischen gegenständlichem Ausgangspunkt und abstrahierter Malgestaltung besteht. Liegende, 1984
Auf einem Bild scheint ein Körper in ein Nichts zu stürzen, bei einer Liegenden erkennt man elegant übereinandergeschlagene Beine, eine Hand, doch der Oberkörper löst sich nahezu ganz in reine Malerei in Schwarz- und Blautönen auf und scheint immer wieder mit dem gelben Bildhintergrund zu verschmelzen. Auch formal entwickelte er eine Kunstsprache des „Dazwischen“. Zu Tisch heißt eine Arbeit, die streng genommen eine Holzplastik ist, allerdings sind die bemalten Bretter so flach, dass man auch von einem Gemälde sprechen könnte. Auch inhaltlich setzt sich dieses Changieren zwischen unterschiedlichen Bereichen fort: Wir sehen ein Gebilde, in dem Tisch, Stuhl und Sitzender zu einer Einheit verschmelzen.
Noch einmal zehn Jahre danach hatte sich Siber fast vollständig in Richtung Abstraktion entwickelt. Zwar legt ein Titel wie Fürstliches Kissen noch Assoziationen an ein Kopfpolster nahe, doch besteht es ausschließlich aus dünnen Holzlatten, die spärlich mit blauer Farbe lackiert sind.
Dieses Changieren zwischen Materialien und Formen hat Siber dabei immer mehr vervollkommnet. So überzog er seine Plastiken mit einer Lackfarbe. Der Kern der Arbeiten ist nicht selten Holz, doch dem Betrachter bietet sich eine derart intakte, fast künstlich glatte farbige Oberfläche, dass er meint, ein reines Kunststoffgebilde vor sich zu haben, obwohl sie in ihrem Kern fast durchweg aus Holz bestehen, das dem Betrachter freilich verborgen bleibt. Zu sehen ist „nur“ die Oberfläche, also der farbige Lacküberzug. An manchen Objekten ist dieses Miteinander von Naturmaterial – Holz – und Kunststoff – Lackfarbe – deutlich zu sehen. Sie bestehen aus einem dicken Holzkern, der an der Oberfläche von einer Lackschicht überzogen ist.
So entstanden Objekte, die ihrem Wesen nach der Natur nahestehen, von ihrer Erscheinungsform aber reine Kunstgebilde mit einer glatten, meist glänzenden Oberfläche sind. Eine Serie aus einundzwanzig Teilen zeigt dieses Mit- oder auch Gegeneinander von Natur- und Kunststoff: Die kleinen Holzblöcke sind an einer Seite mit dicker Farbe bemalt, die an den Rändern hin in Farbschlieren ausläuft. Sie geben Einblick in die Werkstatt eines Künstlers, der den Materialkern zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung vollständig mit einer künstlichen Haut überdeckt und damit immer wieder die Frage aufwirft: Was ist das Wesen des Objekts, was seine Oberfläche, oder ist die Oberfläche vielleicht gar das Wesen dieser Arbeiten?
„Illusion der Gewissheit. Willi Siber“, Städtische Galerie Fähre, Bad Saulgau, bis 17.11.2024