Das Rätsel als Normalität – Giorgio de Chirico in der Staatsgalerie Stuttgart

Wenn auf einem Bild ein Blick durch ein Fenster unversehens zu einem Gemälde auf einer Staffelei mutiert, denkt man an René Magritte, ziehen sich Ziffernblätter in die Länge, ist der Name Salvador Dalí bei der Hand, wenn Naturphänomene wie Blätter mit Szenen aus Trivialromanen kombiniert sind, deutet alles auf die Collagetechnik eines Max Ernst – alles Künstler, in deren Werken der Alltag ins Fantastische umkippt. Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt nun in einer großen Ausstellung, dass diese Künstler möglicherweise einen ganz anderen Weg gegangen wären, wenn ihnen nicht ein Italiener maßgebliche Impulse gegeben hätte: Giorgio de Chirico.

 

Eigentlich ist an dem Bild nichts Besonderes: Auf einem Ölgemälde hat irgend jemand ein Fabrikgebäude porträtiert, doch offenbar hat niemand etwas mit dem Bild anzufangen gewusst, und so steht es in einer Abstellkammer inmitten von Holzlatten sowie einer Spielzeugkanone. Aber ist dem tatsächlich so? Je länger man dieses Bild betrachtet, umso unsicherer wird man: Das Gemälde mit der Fabrik steht seltsam demonstrativ auf einem Sockel, als wäre es das Prunkstück einer Kunstausstellung, durch ein Fenster fällt der Blick auf ein rötliches Gebäude, dessen Architektur eindeutig Italien zuzuordnen ist. Und was sollen die geringelten Stangen bedeuten, was hat uns das sargähnliche Gebilde in der rechten Ecke zu sagen?

Metaphysisches Interieur“ nannte Giorgio de Chirico dieses Bild und hat mit solchen Titeln selbst dafür gesorgt, dass seine Malerei als „metaphysisch“ in die Kunstgeschichte einging. Dabei wäre der schlichte Begriff „rätselhaft“ sehr viel zutreffender, denn was für eine Philosophie, wie sie ein „metaphysisches“ Interieur nahelegen würde, hinter diesem Bild steckt, wird nicht ohne Weiteres ersichtlich, stattdessen verbergen sich hier Rätsel über Rätsel.

In diesem Bild von 1916 steckt bereits in nuce der ganze de Chirico: Wir sind konfrontiert mit Dingen, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen; die „zufällige Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf dem Seziertisch“ gilt als eine treffende Definition des Surrealismus – de Chiricos Bilder wirken wie der Beleg dafür, sie entstanden allerdings Jahre vor der Kunstströmung, die die Gesetze der Alltagswelt außer Kraft setzte. Und es ist nicht nur die Kombination höchst heterogener Gegenstände in einem Bild. De Chiricos Gemälde stellen Räume dar, in denen nicht selten unterschiedliche Perspektiven kombiniert sind; wir sehen Gegenstände, die uns vertraut vorkommen und die wir doch in keiner Weise deuten können, denn sie sind wie selbstverständlich mit anderen Dingen kombiniert, dass sich im Geist des Betrachters ein einziges Fragezeichen aufbaut.

Dabei ist de Chirico streng genommen der große Realist zu Beginn des 20. Jahrhunderts! Picasso und seine Pariser Kollegen hatten die Welt der Gegenstände geometrisch zerlegt und neu zusammengesetzt, Wassili Kandinsky hatte die Gegenständlichkeit völlig über Bord geworfen, doch de Chirico hielt an dem fest, was sich täglich seinen Augen bot. Fast alle Elemente seiner Bilder entstammen seiner Alltagsumgebung, bis hin zu den gekreuzten Backwerken, die sich auf zahlreichen seiner Bilder finden – und denen er bei seinem Spaziergang durch das morgendliche Ferrara begegnete; jede Bäckerei führte dieses ferraresische Spezialität.

Auch die Gliederpuppen kannte zu Beginn des Jahrhunderts jeder, der sich ein Kleidungsstück beim Schneider hatte anfertigen lassen, denn Konfektionsware im Kaufhaus gab es noch nicht. Auch sie finden sich auf de Chiricos Bildern, und auch bei ihnen fragt man sich, was sie da sollen. Was auf den ersten Blick vertraut und realistisch anmutet, wirkt auf den zweiten verstörend. De Chiricos Bilder setzen sich aus Elementen unserer Alltagswelt zusammen und porträtieren doch eine Realität, die es so nicht gibt und in vielen Fällen auch gar nicht geben kann.

Kunsthistorisch betrachtet ist das ein Abenteuer ohnegleichen. De Chirico hatte in München studiert und sich mit der Kunst großer Symbolisten wie Arnold Böcklin auseinandergesetzt. Doch während Böcklin seinen Gemälden die Aura des Unheimlichen und Zauberhaften verlieh, obwohl er der realistischen Malerei oberflächlich betrachtet treu blieb, entkleidete de Chirico die Welt des Alltags in jedem Detail ihrer Normalität.

Das machten auch die erwähnten – und ungleich populäreren – Künstlerkollegen Magritte und Dalí, und nachdem man die Stuttgarter Ausstellung hat Revue passieren lassen, weiß man auch, warum: Sie alle haben von de Chirico gelernt.

Magritte hat seinen berühmten Blick aus dem Fenster, der zum Bild im Bild mutiert, 1933 gemalt, siebzehn Jahre nach jenem Interieur mit Fabrik, die de Chirico als „metaphysisch“ betitelt hatte, und auch Dalís traumverlorene Bildwelten entstanden lange nach denen seines italienischen Vorgängers und Vorbilds, denn de Chiricos Bilder machten in der Kunstwelt bald Furore, nicht nur bei den Surrealisten. Im Vergleich mit de Chirico wirkt ein Carlo Carrà geradezu epigonal. Giorgio Morandi, der sich in seiner Malerei reduktionistisch auf Vasen, Flaschen und Gläser beschränkte, evoziert auf seinen Bildern eine ähnlich geheimnisvoll anmutende Welt, ohne aber an die Rätselhaftigkeit de Chiricos heranzukommen. Selbst die Kunstfiguren eines Oskar Schlemmer – das macht der Gang durch die Ausstellung deutlich – haben ihre Vorläufer in den Schneiderpuppen de Chiricos.

All diese Großen der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts haben eigene Bildwelten kreiert – und stehen doch unverkennbar in de Chiricos Schuld. Sogar der Krimi eines Alfred Hitchcock scheint in dessen Tradition zu stehen, denn auch Hitchcock vermochte ja alltägliche Dinge ihrer Normalität zu entkleiden und mit einer rätselhaften Aura zu umgeben. De Chirico, das zeigt diese Ausstellung, ist der Stammvater all jener Künstler des 20. Jahrhunderts, die im Alltag Magie entdecken, deren Bilder Musterbeispiele hintergründiger Bedeutungen sind. Die meisten von ihnen aber hat er an Rätselhaftigkeit übertroffen, bis heute, nicht zuletzt deshalb, weil er das Rätsel in seine Bilder einbringt, als wäre es etwas ganz Selbstverständliches.

Giorgio de Chirico – Magie der Moderne“. Staatsgalerie Stuttgart bis 3.7.2016. Katalog 248 Seiten, Sandstein Verlag, 29.90 Euro

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