Die Haarfarbe bei klassischen Musikveranstaltungen ist weitgehend grau bis weiß, sofern sich überhaupt noch Haare auf den Häuptern beflnden. 2007 war mehr als die Hälfte der Besucher von Klassikkonzerten über sechzig, nur acht Prozent unter dreißig, und der Trend dürfte sich in den letzten zehn Jahren noch verschärft haben. 1980 lag der Altersdurchschnitt noch bei vierzigJahren. Das Publikum der Klassik stirbt aus – Grund genug für dieVeranstalter, sich neue Formen auszudenken, um alternativePublikumsgruppen für die Klassik zu interessieren.
Staatsorchester Stuttgart © Sebastian Klein
Das Bild hat sich seit Jahrzehnten, wenn nicht gar seit Jahrhunderten nicht geändert. Zwischen Publikum und Musikern besteht eine strikte Trennung, in der Oper sogar durch einen „Graben“ deutlich gemacht, in dem das Orchester sitzt. So liebt es das traditionelle Publikum, doch so etwas kann auch abschrecken, sodass so mancher sich einen Besuch gar nicht zutraut. Die Stuttgarter Bachakademie will diese Hemmschwelle nun mit alternativen Spielorten überwinden. So findet am 17. Oktober eine Bachkantate in den Wagenhallen statt, wo früher einmal Eisenbahnwaggons und -lokomotiven repariert wurden, wo sich inzwischen aber ein alternatives Kulturzentrum mit einem Programm und Publikum entwickelt hat, das mit einer Bachkantate selten in Kontakt kommen dürfte. Ein anderes Konzert findet im Kunstmuseum Stuttgart statt. So will man Publikumsgruppen erreichen, für die Barockmusik möglicherweise eher abschreckend wirken mag.
Ob das Konzept aufgeht, muss das Experiment erweisen, viel wichtiger als die Wahl alternativer Spielorte aber ist die Fomı der Musikpräsentation. Nach der Aufführung der Kantate wird Hans-Christoph Rademann, der Dirigent und Leiter der Bachakademie, in das Werk einführen, das dann noch einmal wiederholt wird, und im Anschluss besteht Gelegenheit, bei geselligem Ausklang mit den Musikern ins Gespräch zu kommen. Das ist eine Möglichkeit, den Kontakt mit Musik, der ansonsten streng und formal steif geregelt ist, neu zu ermöglichen, und die Bachakademie ist damit nicht allein.
Die Stuttgarter Philharmoniker müssen, um an neue Publikumsschichten zu kommen, nicht einmal neue Spielstätten aufsuchen. lm Siegle-Haus, in dem das Orchester residiert, befindet sich auch der BIX Jazzclub. Beide veranstaltenfgemeinsam Nachtschwärmerkonzerte (die bereits um 20.30 Uhr beginnen, aber bis in die Nacht hinein andauern), in denen Jazz und klassische Musik nebeneinander erklingen. Sowohl der Jazzclub als auch die Philharmoniker erhalten so neue Publikumskontakte.
Selbst das Stuttgarter Ballett hat vor allem den jungen Publikumsnachwuchs in seinen Fokus gerückt, obwohl die Veranstaltungen durchweg ausverkauft sind und das Publikum vom Alter her erheblich gemischter ist. So können Studenten kostenlos Generalproben besuchen. Es finden eigene Kindereinführungen in die Vorstellungen statt, Workshops, in denen Jugendliche selbst tanzen können, und Ballettpädagogen besuchen regelmäßig Schulen, denn auch das Stuttgarter Ballett weiß, dass das Publikum von morgen nicht intime Kenntnis des Tanzes in die Wiege gelegt bekommen hat
Auch die Oper Stuttgart setzt vor allem auf Jugendarbeit. Dieser künftigen Publikumsschicht dient eine ganz eigene Abteilung, das JOIN, das in der Spielstätte im Stuttgarter Norden eigens für die Jungen Bühnenproduktionen erarbeitet und das junge Publikum pädagogisch betreut, ähnlich wie das Ballett auch in den Schulen. lm Opernhaus selbst wird für Sitzkissenkonzerte im Foyer Musik in ein Märchen verpackt, danach können die Kleinen die Musiker und ihre Instrumente näher kennenlernen: Das ist hautnaher Kontakt mit klassischer Musik. Aber auch die Sinfoniekonzerte werden zum Teil für die Kleinen vorbereitet. Während die Eltern am Sonntagvormittag die erste Konzerthälfte im Beethovensaal der Liederhalle genießen, werden die Kleinen in Workshops auf die Werke der zweiten Hälfte vorbereitet, dürfen mit dem Orffschen Instrumentarium selbst in die Musik aktiv eindringen, und können dann in der zweiten Konzerthälfte die Originale bestens vorbereitet zum ersten Mal erleben.
Damit wird Musik für die Kleinen geradezu körperlich erlebbar, ein Aspekt, der auch und gerade bei der klassischen Musik ein wesentlicherAspekt ist, den die Erwachsenen steif in den Sitzen ruhend weniger an sich erfahren. Die Bachakademie hat das über das Medium Tanz bereits seit einigen Jahren erprobt, indem Jugendliche die Musik des Barock durch Bewegung körperlich erleben. Beim nächsten Musikfest im Sommer 2020 wird das durch den Gesang noch ergänzt werden. In Liegekonzerten werden zudem neue Körpererfahrungen zu machen sein, und in Nachtkonzerten werden die Musikinhalte durch Gespräche vermittelt, was die Oper in eigens eingerichteten Familienkonzerten erprobt. Hier wird die bei Veranstaltungen bereits übliche Einführung vor dem Abend in das Konzert selbst integriert. So wird auch die Perspektive auf die klassische Musik neu ausgerichtet, was die Stuttgarter Philharmoniker durch ihre Reihe „Mitten im Orchester sitzen“ realisiert, bei der das Publikum nicht gegenüber dem Orchester sitzt, sondern sich mitten unter die lnstrumentalisten begeben und so die akustische Perspektive etwa eines Trompeters erleben kann.
So wird neben der unterschiedlich gestalteten Hinführung zur Musik durch Einführungen und Gespräche auch der Kontakt zur Musik variabel gestaltet- und somit ein Interesse an der klassischen Musik geweckt, sodass dann im normalen Konzertbetrieb eine andere Musikerfahrung möglich wird.
Dieser traditionelle Musikbetrieb mit seinen angestammten Formen – Musik dort vorn, Publikum hier hinten – wird natürlich die Norm bleiben, wer aber durch andere Kontaktmöglichkeiten mit derselben Musik einen neuen Zugang zur Klassik finden kann, wird dieser altehnıvürdigen Form dann vielleicht sogar eigene Reize abgewinnen können.
Ein Problem freilich bleibt bestehen. Das erst noch zu gewinnende Publikum muss von der Existenz solcher Musikdarbietungsformen Kenntnis bekommen. So ist der Publikumszuspruch bei den „Radioshows“ der Oper, bei denen das Publikum ihm sonst verschlossene Orte wie den Orchestergraben unmittelbar erleben kann, noch ein wenig dürftig. Dabei kann hier nicht nur andere Musik erlebt, sondern auch das Opernhaus neu erkundet werden. Da hat es die Bachakademie mit Konzerten in den Wagenhallen möglicherweise leichter, denn wenn nur sie wie die anderen Institutionen für solche Veranstaltungen werben würden, könnten sie lediglich ihr Stammpublikum erreichen. So aber werben auch die Wagenhallen für das Konzert.