Da hatte die klassische Kultur offenbar einen hohen Stellenwert. So feierte die niederländische Regierung das 150jährige Jubiläum ihrer Verfassung nicht einfach nur durch Reden, sie wollte etwas Dauerhaftes und beauftragte den Direktor des Nederlands Dans Theater, Jiří Kilián, mit einem Ballett, und der – noch ungewöhnlicher – nahm sich zum Thema den ersten Satz dieser Verfassung: „Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt. Niemand darf wegen seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Anschauungen, seiner Rasse, seines Geschlechtes oder aus anderen Gründen diskriminiert werden.“ So geschehen 1998: One of a Kind. Jetzt hat das Stuttgarter Ballett diese Choreographie in sein Repertoire aufgenommen.
Miriam Kacerova. Foto: Stuttgarter Ballett
Abstrakter hätte der Vorwurf zu diesem Ballett kaum mehr ausfallen können, aber von Anfang an findet Kylián prägnante Bilder und Szenen für diesen Satz, geht es doch darin um nichts Geringeres als den hohen Stellenwert jedes Menschen – der Titel des Balletts bezieht sich auf ihn: One of a Kind, Einzigartig – die Unverzichtbarkeit des Einzelnen, der aber, da stets auch ein Zoon politikon, in der Gemeinschaft existiert. Was das bedeutet oder bedeuten kann, das untersucht Kylián mit seinem Ballett exemplarisch und sehr anschaulich. So beginnt das Ganze mit dem Eintreten eines Menschen in eine neue Welt, gewissermaßen mit der Einwanderung, und dieser Mensch, so Kylián, kann jeder sein, auch du und ich. Also erhebt sich in der ersten Zuschauerreihe eine Frau, klettert über die Rampe und bewegt sich auf die Bühne zu – zögernd, tastend wie in eine fremde Welt, und diese Welt ist zudem alles andere als einladend. Faszinierend, wie Miriam Kacerova die Unsicherheit in ihren Bewegungen ausdrückt und zugleich den Wunsch, in dieser Welt heimisch zu werden, die sie mit Blicken und tastenden Schritten zu erkunden sucht. Sie ist gewissermaßen unser aller Stellvertreterin.
Als Bühnenbild hat Atsushi Kitagawara mit Bauten und raffinierten Lichteffekten eine kalte Umgebung gestaltet, die wie ein Eismeer wirkt, man kann sich an die einsamen Bildwelten eines Caspar David Friedrich erinnert fühlen. Und hier trifft sie nun auf die anderen. Jeder ist noch, wie das so ist bei ersten Begegnungen, für sich allein. Daher ist dieser Teil des Balletts auch mit „Solos“ überschrieben. Kylián wählte als Titel für die einzelnen Abschnitte des Balletts ganz klassische Begriffe des Tanzlehrbuchs: Solo, Pas de trois, Pas de quatres. Jeder Tänzer offenbart in diesen Soli eine eigene Individualität – der eine verhalten, in sich gekehrt, der andere flatterhaft wie ein Vogel, was zu den Flageoletttönen des Cellos hervorragend passt, das im Wesentlichen die Musik des Abends bestreitet.
Miriam Kacerova, Jason Reilly, Foto: Stuttgarter Ballett
Aus der Vereinzelung werden Begegnungen – Zweierbeziehungen, und hier weicht Kylián, der in jedem Aspekt dieses Balletts ungemein logisch konsequent ist, von der üblichen Bezeichnung ab: nicht Pas de deux, sondern Duet, denn wenn zwei Menschen in Interaktion treten, bilden sie eine Einheit – tänzerisch wird so ein Duett daraus, das je nach Partner unterschiedlicher kaum sein könnte. Mit dem einen ergeben sich vertrauliche, poetisch anmutende Begegnungen, mit dem anderen entwickelt sich Streit, in einem dritten Fall versucht jeder der beiden, seine eigene Individualität zu wahren – was in einer Dreierbeziehung noch schwerer ist, denn hier ist immer einer zu viel, entweder ein Mann oder eine Frau, je nach Gschlechterzusammensetzung.
In der Vierergruppe wiederum ist perfekte Harmonie möglich, weshalb die vier Tänzer in dieser Konstellation denn auch absolut symmetrische Bewegungen ausführen. Das kann man als Inbegriff der Harmonie deuten, birgt aber zugleich die Gefahr, dass hier jeder seine Individualität aufgegeben hat zugunsten einer Einheit.
Kylián kritisiert weder das eine noch das andere, er spielt alle Möglichkeiten durch. Im 2. Akt werden die Beziehungen ungleich komplizierter, die Verhältnisse der Figuren zueinander sehr viel aggressiver, dafür aber bleibt der Möglichkeitsraum für den jeweiligen Einzelnen auch größer. Was abstrakt und wie aus dem Lehrbuch des Choreographen wirkt, ist eine sehr plastische, anschauliche und hochgradig philosophische Auseinandersetzung um die Möglichkeit, man selbst bleiben zu können, und die Notwendigkeit, auf andere und ihre Bedürfnisse einzugehen.
Miriam Kacerova, Foto: Stuttgarter Ballett
Zugleich zeigt sich auch ein Gefahrenpotential einer Gesellschaft. Wie ein überdimensionales Auge kreist im 2. Akt ein Kegel über den Tänzern, richtet teleskopartig die Spitze mal auf diesen, mal auf jenen.
Und Kylián zeigt ab diesem zweiten Akt, wie wichtig die Musik für den Tanz ist. Brett Dean hat eine faszinierende Musikcollage für das Ballett geschrieben mit einem aufregenden Miteinander zwischen einem Solisten, dem Cellisten Francis Gouton, und der Tontechnik, die alle Klänge raffiniert mischt. Auch das ist ein Kommentar zur Frage: Wie individualistisch darf der Mensch sein, wie stark muss er sich in Gemeinschaft und Abhängigkeit begeben.
Schließlich löst sich die Protagonistin wieder aus dem neuen „Lebensverbund“. Schnurvorhänge trennen sie von dem Treiben der anderen, lassen ihr aber die Möglichkeit zur inneren Anteilnahme. Am Ende bleibt sie allein auf der Bühne zurück und schreitet langsam nach hinten hinaus – allein zwar wieder, aber jetzt befreit von aller Unsicherheit, die sie zu Beginn noch gehemmt hatte, in eine Zukunft, die offen ist, aber offenbar nicht mehr einschüchternd. Die Interaktion mit den anderen hat sie reifen lassen, hat sie verändert.
Ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Ballett – eben one of kind -, das ein sprödes Thema systematisch zu faszinierendem Leben erweckt. Das Repertoire des Stuttgarter Balletts ist um ein Meisterwerk reicher.