1998 feierten die Niederlande das 150. Jubiläum ihrer Verfassung und die Regierung bat den damaligen künstlerischen Leiter des Nederlands Dans Theaters, Jiří Kylián, um eine Choreographie zu diesem Anlass. Kylián wählte als Ausgangspunkt einen zentralen Satz dieser Verfassung: „Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt.“ Für ihn hieß das, dass jeder für sich unverwechselbar, individuell und als solcher zu akzeptieren ist, und so nannte er sein Ballett One of a Kind – Einzigartig.
Rocio Aleman © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Was aber bedeutet das für den Einzelnen, wenn er doch in einer Gesellschaft mit Abertausenden anderen Individuen leben muss? Kylián schuf zu dieser Frage gewissermaßen einen choreographischen Modellversuch: So beginnt das Ganze mit dem Eintreten eines Menschen in eine neue Welt, gewissermaßen mit der Einwanderung, und dieser Mensch, so Kylián, kann jeder sein, auch du und ich. Also erhebt sich in der ersten Zuschauerreihe eine Frau, klettert über die Rampe und bewegt sich auf die Bühne zu – zögernd, tastend wie in eine fremde Welt. Rocio Aleman wirkt dabei, nicht zuletzt wegen ihres langen Zopfs, fast noch wie ein Mädchen, das in die vor ihr liegende noch fremde Welt eintritt.
Sie ist dabei quasi Stellvertreterin für uns alle, denn zu Beginn sitzt sie in der ersten Zuschauerreihe. Weiße Bretter überbrücken den Weg auf die Bühne, Bretter, die sich im Bühnenbild fortsetzen und eine alles andere als einladende Welt bilden. Atsushi Kitagawara hat mit kargen Bauten und raffinierten Lichteffekten eine kalte Umgebung gestaltet, die wie ein Eismeer auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich wirkt. Hier trifft sie nun auf die anderen. Jeder von ihnen ist dabei zu Beginn, wie das so ist bei ersten Begegnungen, für sich allein, und höchst individuell: der eine eher verhalten, in sich gekehrt, ein anderer keck, stolzierend fast wie ein Pfau – Individuen eben, die die Protagonistin, und als solche darf man Rocio Aleman in diesem Ballett durchaus bezeichnen, denn sie ist die ganze Zeit über auf der Bühne, neugierig beobachtet.
So erlebt sie, was es heißt, in Kontakt mit anderen Individuen zu treten, die später auch zu mehreren als Gruppe auftreten und dabei jeweils ein anderes Verhalten an den Tag legen. Jiří Kylián beschönigt nichts: Ein Zusammenleben ist in der Gesellschaft Normalität, gewissermaßen auch Zwang, es bereichert, es engt aber auch ein, denn auch die anderen haben ihre eigenen Rechte und Begierden. Immer wieder bricht in den oft kurzen Tanzszenen Gewalt aus, fast so etwas wie Vergewaltigung. Kein Wunder, dass sich die Protagonistin immer wieder schreckhaft zurückzieht und dem Treiben der übrigen distanziert, fast ängstlich zusieht. Kylián spielt alle Möglichkeiten durch.
Im 2. Akt werden die Beziehungen ungleich komplizierter, die Verhältnisse der Figuren zueinander sehr viel aggressiver, dafür aber bleibt der Möglichkeitsraum für den jeweiligen Einzelnen auch größer. Was vom Thema her so abstrakt wirkt, ist eine sehr plastische, anschauliche und hochgradig philosophische Auseinandersetzung mit der Frage, wie man Individuum bleiben kann und doch auf andere und ihre Bedürfnisse eingehen muss.
Der australische Komponist Brett Dean hat für dieses choreographische Mit- und Gegeneinander ein Stück für ein Violoncello geschrieben, dessen Klänge immer wieder elektronisch aufgegriffen und verändert wieder in den Raum zurückgespielt werden – gewissermaßen das musikalische Pendant zum Thema Individuum und Umgebung,
Fabio Adorisio © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
und auch das Bühnenbild wird Teil von Kyliáns Choreographie. Immer wieder scheinen sich die Linienführungen der Requisiten und die Gliedmaßen der Tänzer in ihren Bewegungen zu entsprechen, etwa bei den Sprüngen von Fabio Adorisio in einem Solo.
Im Jahr 2019 hat das Stuttgarter Ballett dieses Meisterwerk auf seine Bühne gebracht, jetzt, nach längerer Pause in teilweise veränderter Besetzung wieder ins Programm aufgenommen, und das wiederholte Betrachten zeigt, wie vielschichtig dieses Werk ist, denn Kylián hat nicht nur ein philosophisches Stück über Individuum und Gesellschaft geschaffen, sondern zugleich ein genuines Tanzstück, letztlich sogar eine Choreographie über den Tanz. So sind die einzelnen Stücke, aus denen sich das Ballett zusammensetzt, wie nach dem Lehrbuch des Choreographen benannt. Die Einzeldarbietungen sind mit „Solo“ überschrieben, die Stücke für drei oder vier Tänzer mit „Pas de trois“ bzw. „quatre“. Und er spielt anhand dieser Szenen geradezu systematisch, aber mit viel Fantasie durch, was die jeweilige Anzahl der beteiligten Tänzer für deren Verhältnis zueinander bedeutet. Bei einem Solo kann jeder seine Individualität ausleben. Problematischer wird das in einer Dreierbeziehung, denn hier ist immer einer zu viel, entweder ein Mann oder eine Frau, je nach Geschlechterzusammensetzung. In der Vierergruppe wiederum ist perfekte Harmonie möglich, weshalb die vier Tänzer in dieser Konstellation denn auch absolut symmetrische Bewegungen ausführen. Das kann man als Inbegriff der Harmonie deuten, birgt aber zugleich die Gefahr, dass hier jeder seine Individualität aufgegeben hat zugunsten einer Einheit. Vittoria Girelli, Mackenzie Brown, Alessando Giaquinto und Timoor Afshar loten diese zwiespältigen Qualitäten eines Pas de quatre perfekt aus.
Elisa Badenes, Matteo Miccini © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Die möglicherweise ideale Form scheint die Paarbeziehung, die durchaus eine Einheit werden kann, etwa wenn Agnes Su und Friedemann Vogel mit ihren Bewegungen verdeutlichen können, was es heißt, dem anderen Halt in mehrfacher Hinsicht zu bieten oder Elisa Badenes und Matteo Miccini in einer kecken Beziehung ihr komödiantisches Talent entfalten können. Aber auch hier zeigt Kylián mögliche Probleme auf. Mit dem einen ergeben sich vertrauliche, poetisch anmutende Begegnungen, mit dem anderen entwickelt sich Streit, in einem dritten Fall versucht jeder der beiden, seine eigene Individualität zu wahren –
– denn darum geht es letztlich bei allen gesellschaftlichen Interaktionen doch auch: Ich zu bleiben. Am Ende bleibt die Protagonistin allein auf der Bühne zurück und schreitet langsam nach hinten hinaus – allein zwar wieder, aber jetzt befreit von aller Unsicherheit, die sie zu Beginn noch gehemmt hatte, in eine Zukunft, die offen ist, aber offenbar nicht mehr einschüchternd. Die Interaktion mit den anderen hat sie reifen lassen.