Jahrhundertelang mischten Maler ihre Farben auf der Palette, ehe sie sie auf Leinwand oder Holz auftrugen. Das änderte gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Maler Georges Seurat. Er untersuchte das Phänomen Farbe geradezu wissenschaftlich und gelangte zu der Erkenntnis, dass Farben sich nicht auf der Palette, sondern im Auge mischen. Daher trug er die Farben in kleinen Punkten oder Strichen nebeneinander auf. Der Divisionismus war geboren, aus dem sich dann der populäre Pointillismus entwickelte. Der 1930 geborene Emil Kiess machte diese Erkenntnis zum Ausgangspunkt seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Phänomen, wie eine Kabinettausstellung im Museum Art.Plus in Donaueschingen belegt.
Schwarz will blühen heißt ein Bild, das Emil Kiess Mitte der 50er Jahre malte. Da war er fünfundzwanzig und hatte das Studium an der Stuttgarter Akademie beendet. Es ist ein abstraktes Bild aus dunklen Bildelementen und scheint mit den späteren Arbeiten nichts gemein zu haben, denn da wandte sich Kiess der Farbe zu, der intensiv leuchtenden, in sich vibrierenden. Seine Bilder setzen sich da aus lauter farbigen Tupfen und Flecken zusammen. Aus der Nähe betrachtet sieht man nichts als diese einzelnen Bildelemente. Aber geht man ein paar Schritte zurück, verbinden sich diese Einzelteile zu einem Teppich, man sieht nicht einzelne Tupfen, sondern Farbwelten, die nie zur Ruhe zu kommen scheinen. Vor allem aber scheinen die Farben sich unablässig zu verändern. So meint man bei einem mehrere Meter breiten Bild eine Fülle von Blau- oder Rottönen vor sich zu haben – ein Ergebnis der sorgfältigen Farbauswahl.
Im Jahr 2001 schuf Kiess ein Bild aus lauter leuchtend farbigen großen Rechtecken – Rot, Blau Grün, Gelb. Das Bild führt gewissermaßen exemplarisch ein in die Theorie des Divisionismus. Es kommt darauf an, welche Farben nebeneinander liegen, sie beeinflussen sich gegenseitig. Geht man mit dem Auge nah an dieses Bild von Emil Kiess heran und lässt sein Auge schweifen, dann meint man, dasselbe Rot, das sich eben noch neben einem Grün befand, verändere seinen Farbwert, wenn es neben Gelb liegt. Kiess hat dieses Prinzip bis zur Perfektion weiterentwickelt.
Das Nebeneinander von Farbflächen oder -tupfen bewirkt die Mischung der Farben und die Vielfarbigkeit, aber nicht nur. Bei Kiess wird dieser Farbeindruck noch intensiviert, indem er die Farbflecken nicht nur nebeneinander setzt, sondern in vielen Schichten auch übereinander. So entwickelt sich ein wahrer Farbzauber. Blautöne variieren, gehen in rote Flächen über, und je näher man sich mit dem Auge an der Leinwand befindet, umso vielschichtiger wird dieses Geschehen. So meint man einmal, einen grünen Fleck auf der obersten Schicht wahrzunehmen, während ein anderer ähnlich grüner sich tief unten in einer Grundschicht zu befinden scheint. So vermeidet Kiess die Flächigkeit, die die Bilder der Pointillisten kennzeichnet, seine Bilder haben Tiefe. Man meint, in Farbräume abzutauchen, aus deren Tiefe manchmal leuchtende farbige Ereignisse auftauchen wie aus einer fremden Welt. Kiess‘ Bilder sind Geheimnisse der Malerei, bezeichnenderweise nennt er seit Jahrzehnten seine Bilder auch nur noch Malerei, und man kann anhand dieser Bilder nachvollziehen, was Malerei ausmacht. Dazu gehört auch die Materialität der Farbe.
Mal trägt Kiess sie ganz dünn und flächig auf, dann wieder, manchmal unter Zumischung von Sand, pastos, und so kann dasselbe Schwarz unterschiedliche Farbqualitäten aufweisen, und Schwarz findet sich immer wieder bei Kiess. Insofern ist sein frühes Bild, auf dem das Schwarz laut Titel ja „blühen“ will, bereits eine Vorausschau auf das, was diesen Künstler die nachfolgenden Jahrzehnte beschäftigte: Dem Geheimnis der gemalten Farbe auf die Spur zu kommen, und dieses Geheimnis ist derart vielschichtig und tief, dass man lange vor jedem dieser Bilder steht und immer wieder Neues entdeckt.
„Emil Kiess“, Museum Art.Plus, Donaueschingen bis 23.6.2019