Vor sechzig Jahren übernahm John Cranko die Leitung des erst wenige Jahre zuvor gegründeten Stuttgarter Balletts, und damit begann ein beispielloser Höhenflug dieser Truppe, in der man bald international das „Stuttgarter Ballettwunder“ sah. Zur Feier hatte der jetzige Ballettdirektor Tamas Detrich die Idee, das Ereignis zu feiern, indem er drei frühere Hauschoreographen zu einem neuen Premierenabend einlud: William Forsythe, Christian Spuck und Marco Goecke. Vierter im Bunde war Edward Clug, mit dem das Konzept freilich durchbrochen wurde. Statt seiner hätte eigentlich Demis Volpi dabei sein müssen, denn der war der vierte Hauschoreograph in Stuttgart.
Edward Clug, Source. Tänzer: Vittoria Girelli, Fabio Adorisio © Stuttgarter Ballett
Dabei ist es gut, dass das, was Edward Clug jetzt neu für die Stuttgarter Compagnie kreierte, Teil des nicht in jeder Hinsicht gelungenen Abends wurde. In seiner letzten Arbeit für Stuttgart, die dem Bauhaus gewidmet war, hatte Clug die Tanzbewegungen gewissermaßen in ihre Bestandteile zerlegt und wie nach den Gesetzen eines Baukastens neu zusammengesetzt. Das war witzig, wirkte spielerisch und war zugleich sehr genau geplant. Seine neue Arbeit scheint da anzuknüpfen. Die Tänzer wirken hier immer wieder wie Marionetten, die von ihren Partnern in ihren Bewegungen buchstäblich angewiesen werden. Dabei legen diese „lehrenden“ Partner durchaus auch Hand an und bringen die Körperteile in die richtige Position. Aber es gibt nicht „Lehrer“ und „Schüler“, die Rollen vertauschen sich.
Source heißt das Stück, und im Programmheft verweist er auf die immense Bedeutung, die John Cranko für ihn hat. Doch mit dessen Tanzsprache hat das, was Clug hier zu einer Neukomposition von Milko Lazar schuf, nichts zu tun. Von diesem Geschehen aus ließe sich der Titel eher so verstehen, dass die Quelle für jeden Tanz das Gegenüber ist – das kann das Gegenüber eines weiteren Tänzers sein, das Gegenüber einer Gruppe oder das Gegenüber einzelner Körperteile, sodass eine Armbewegung die Bewegung des anderen Arms nach sich zieht – eine Art Einführung in die Bewegungsstrategien eines Choreographen. So verstanden, machte der Titel Sinn.
Bewegungen in Einzelteile zu zerlegen, ist seit Jahren ein Erkennungsmerkmal von Marco Goecke, nur geht er dabei ungleich radikaler vor als Clug. Er zerlegt jede Körperbewegung in kürzeste Bewegungspartikel, sodass den Betrachter gelegentlich ein Taumel erfasst. Goecke ist in letzter Zeit allerdings etwas ruhiger geworden, und so verharren in seinem neuesten Stück die beiden Tänzer gelegentlich auch einmal in absoluter Reglosigkeit. Das Stück beginnt damit, dass der Tänzer (Henrik Erikson) seinen Körper erkundet, sich seiner Arme, seines Rumpfes vergewissert.
Marco Goecke, Nachtmerrie. Tänzer: Mackenzie Brown, Henrik Erikson © Stuttgarter Ballett
Dann tritt seine Partnerin hinzu (Mackenzie Brown), und er beginnt, ähnlich wie bei Clug, ihr die Bewegungen vorzumachen. Beide tanzen eine Zeitlang absolut synchron, bis sich, kaum merklich, der Körper der Tänzerin von den Vorgaben des Partners löst und Schritt für Schritt ein Eigenleben entfaltet. Es ist ein Wechselspiel von Parallelität und Individualität, von Symmetrie und Gegensätzlichkeit, und letztlich geht es um eine Paarbeziehung, in der doch beide versuchen, ihre Eigenständigkeit zu bewahren – eine brillante Gratwanderung, die von Mackenzie Brown und Henrik Erikson mit faszinierender Körperbeherrschung realisiert wird. Zudem finden sie die perfekte Balance zwischen mechanischem Annehmen der Bewegungsanleitung des Partners und eigener Individualität und zwischen düsterer Traumatmosphäre und heiterer Verspieltheit, bei der lediglich der Titel stört. Nachtmerrie benennt er es mit dem holländischen Wort für Alptraum, der für ihn, so äußert er sich im Programmheft, jedoch nicht nur etwas Bedrückendes an sich hat, sondern auch fröhliche Seiten enthält, wie die Worthälfte „merrie“ andeuten könnte. Doch auch dann ist nur schwer eine Beziehung zwischen Titelbegriff und tänzerischem Geschehen herzustellen.
Größte Probleme bereitet Christian Spuck mit dem Titel seiner neuen Kreation. Cassiopeia’s Garden nennt er es, doch was das tänzerische Geschehen mit jenem Sternbild zu tun hat, aus dem uns die stärksten Radiowellen außerhalb unseres eigenen erreichen und wo sich vor Milliarden Jahren vermutlich einmal eine große stellare Katastrophe ereignet hat, bleibt unerfindlich. Die Katastrophe ist allerdings erkennbar. Noch bei dunkler Bühne ertönt ein ohrenbetäubender scheppernder Lärm, als ob eine Welt zusammengebrochen wäre.
Christian Spuck , Cassiopeia’s Garden. Tänzer: Agnes Su, Clemens Fröhlich © Stuttgarter Ballett
Von der Katastrophe künden Posen einzelner Tänzer, die apathisch gegen einen Tisch gelehnt auf dem Boden sitzen. Die übrigen bilden nicht selten Paarbeziehungen oder tanzen zu dritt. Das alles ist vom Modern Dance inspiriert, es finden sich durchaus faszinierende Verschränkungen von Gliedmaßen und Körpern, interessante Hebungen, doch wirkt das alles, als habe man es schon unendlich oft gesehen.
William Forsythe , Blake Works I. Tänzer: Adhonay Soares da Silva, Agnes Su, Mackenzie Brown © Stuttgarter Ballett
Was den Titel betrifft, hat William Forsythe die beste Lösung gefunden, als er 2016 für das Ballett der Pariser Oper seine Blake Works I schuf, die jetzt als deutsche Erstaufführung in Stuttgart das neue Programm beschließen. Der Titel bezieht sich auf die Musik: sieben Songs von James Blake. Was genau an diesen Songs ihn zu dem inspirierte, was schließlich auf die Bühne gelangte, ist freilich nicht leicht zu verstehen, denn die Texte der Songs dürften nur wenigen geläufig sein. Der Forsythe-Kenner jedenfalls dürfte sich die Augen reiben vor Verwunderung, denn Forsythe ist bekannt für seine Dekonstruktionen klassischer Bewegungen, die er rasant, manchmal hektisch in kleinen Bewegungsausschnitten neu zusammensetzt. Hier jedoch erlaubt er sich, eine Art Balanchine neu zu erfinden. In klassisch anmutenden hellblauen Trikots und Röcken schweben die Tänzerinnen über die Bühne, wirbeln mit ihren Partnern durcheinander. Sie tanzen auf Spitze – bei Forsythe ganz ungewohnt, und doch ist das alles kein Abklatsch des klassischen modernen Tanzes. Beschlossen wird das Stück von einem Pas de deux, den Hyo-Jung Kang und David Moore hinreißend traumverloren ausführen.
Das Spektrum der sieben Stücke freilich ist nicht so groß, dass es wirklich die sieben sein mussten, es hätten auch weniger gereicht, dann wäre das Stück in sich geschlossener ausgefallen.
Tamas Detrich aber ist mit diesem Premierenabend eine Meisterleistung gelungen. Er hat trotz Corona alle geplanten Premierenabende ohne Abstriche realisieren können. Angesichts dessen, dass andere Häuser in eine Art Schockstarre verfallen sind, ein kleines Wunder.