Sie hat den Körper eines Löwen und den Kopf eines Menschen – die Sphinx, das wohl bekannteste Mischwesen, das Tier- und Menschensphäre miteinander verbindet. Umgekehrt war es bei Thot im alten Ägypten: Er hatte den Kopf eines Ibis und den Körper eines Menschen. Dabei sind Mensch und Tier doch so eng miteinander verwandt, dass man eigentlich nicht die Welt der Mythen und Märchen bräuchte. Chimäre nennt man ein Mischwesen aus der griechischen Mythologie, Chimären kennt aber auch unsere Naturwissenschaft, die gebräuchlichste Form entsteht durch Veredlung bei Gehölzen. Der Bildhauer Karl-Ulrich Nuss hat seine eigene Chimärenwelt realisiert. Schließlich ist alles denkbar, es ist nur eine Frage der Fantasie.
Schlechse, 2017. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Ein Maultier ist eine Kreuzung zwischen einer Pferdestute und einem Eselhengst – und es funktioniert, beide Tiere sind ja auch verwandt. Warum also, fragte sich der Bildhauer Karl Ulrich Nuss, nicht auch eine Kreuzung zwischen Schlange und Eidechse, schließlich sind beides Reptilien, und schuf in Bronze seine Schlechse. Freilich: ganz so perfekt ist die Fusion beider Tierarten nicht geglückt, vor allem scheint die Evolution sich noch nicht ganz entschieden zu haben, denn Schlangenhälfte und Echsenhälfte streben deutlich in entgegengesetzte Richtungen. Oder sollte es einmal ein uns unbekanntes Wesen gegeben haben, aus dem sich später einerseits die uns bekannte Schlange und andererseits die Eidechse entwickelt haben? Die Natur geht manchmal sonderbare Wege. Karl Ulrich Nuss hat sie in seiner Fantasie verfolgt und in Bronze verewigt.
Da können dann auch einmal Vogel und Schlange eine Verbindung eingehen, schließlich schlüpfen beide Tiere aus Eiern. Oder im Urwald trafen sich einmal Gir- ja und wer noch? Ein Affe? Dann hätten wir den Giraffer, und da in der gänzlich unzoologischen Figurenwelt von Karl Ulrich Nuss Gleichberechtigung herrscht, gibt es natürlich auch die Giräffin, oder waren da statt Affen gar Menschen beteiligt? Die Gliedmaßen lassen das nicht unmöglich erscheinen.
Kuhfrau, 2020, Büffelmann, 2016. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Denn noch häufiger als Tier mit Tier verbinden sich bei Nuss, und da bewegen wir uns in Richtung Märchen- und Mythenwelt, Mensch und Tier. Der Büffelmann gibt sich da ganz draufgängerisch, während sein Pendant die Kuhfrau fast schon kokett dahertänzelt.
Die skulpturale Tierwelt von Karl Ulrich Nuss ist dabei erstaunlich logisch; die Fusionen gehen bis in die Details und sind gerecht verteilt. So hat die Gansfrau – fast möchte man sagen: natürlich – zwei Gänsefüße, aber eben auch zwei Frauenbeine und -füße. Beim Adlermann ist der menschliche Teil zum Adlerhorst degradiert, der Ader landet stolz auf dem Menschenkörper und ersetzt ihm das Haupt, das der Mensch ja sonst stolz in die Luft erhebt.
Überhaupt scheinen sich die Menschen nicht selten den Tieren anzuverwandeln, nicht umgekehrt. So liegt der Schweinemann in sanftem Schlummer wie das Schwein in seinem Koben und reckt nur das Ringelschwänzchen in die Höhe.
Aber es geht auch mythologisch-philosophisch zu im Tierreich von Karl Ulrich Nuss. Bei seiner Medusa meint man geradezu, dem Augenblick beizuwohnen, in dem die Frau in ein Ungeheuer verwandelt wird. Noch ist es nur das Haupt, das aus lauter dicken Schlangen besteht, der Körper bleibt von dem Verwandlungsakt noch verschont.
Artemis, 2021. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Nicht so bei Artemis, der Königin der Jagd. Sie ist nicht, wie sonst bei mythologischen Darstellungen, als Jägerin mit einem gespannten Bogen dargestellt, sondern als eines ihrer Opfer, als Hirsch. Allerdings vereint diese Artemis auch noch die zweite Komponente, die man dieser Göttin in der Antike andichtete: die der Fruchtbarkeit, leicht erkennbar an gleich mehreren Brüsten.
Allerdings: Selbst in der zoologischen Fantasie von Karl Ulrich Nuss schlägt die Evolution gelegentlich Irrwege ein. Irrtum heißt eine Plastik, und man sieht sogleich, worin dieser Irrtum besteht. Ein Schaf umarmt da in zärtlicher Leidenschaft eine Kuh. Was daraus wohl entstehen mag? Kaum auszudenken! Da ist die Sache mit dem Maultier harmlos.
Ein zweiter skulpturaler „Irrtum“ freilich ist da nicht so abwegig. Da umarmen sich ein Schaf und ein Ziegenbock. Zoologisch unmöglich? Nicht unbedingt. Es gibt die Kreuzung zwischen Schaf und Ziege. Das Resultat: die Schiege. Es gibt sie, und damit sind künstlerische Fantasie und irdische Realität so weit doch nicht voneinander getrennt.
„Karl Ulrich Nuss. ZOOunLOGISCH“, in der Galerie im Prediger, Schwäbisch Gmünd, bis 7.5.2023. Katalog 44 Seiten