Diese Oper ist eine Herausforderung an Regisseure, denn streng genommen bietet sie nicht viel, zumindest an Handlung. Ein Dorf in der Provinz, die kokette Pächterin Adina, der fahrende Händler Dulcamara, Belcore, ein Militärsergeant, und Nemorino als „Held“, den alle für einen Trottel halten – kein Wunder, dass Regisseure sich immer wieder bemüht sehen, Donizettis Oper Der Liebestrank in ein anderes Ambiente zu verlegen: Von einem Badestrand bis zu einem Wellnesshotel war alles dabei; Rolando Villazón ließ die Geschichte in seiner Inszenierung im Baden-Badener Festspielhaus an einem Westernfilmset spielen mit Adina als Filmstar und Nemorino als kleinem Komparsen.
Nicht viel mehr ist er, dessen „Beruf“ in Donizettis Oper unklar ist – „ein „einfacher Bauer“ -, auch nicht in Anika Rutkofskys Inszenierung an der Oper Stuttgart. Dafür erlebt die von ihm angebetete Adina eine Aufwertung: Aus der schlichten Pächterin, die es immerhin laut Figurenliste zu Reichtum gebracht hat, ist hier eine offenbar erfolgreiche Agrarunternehmerin geworden, die mit chemisch-wissenschaftlicher Akribie einen Betrieb unter Laborbedingungen leitet. Ihre Mitarbeiter gleichen Angestellten in einem Chemiebetrieb, setzen auf der einen Seite Pflänzlinge in kleine Töpfe, aus denen auf der anderen riesige Kohlköpfe geworden sind: das Wunder der Gentechnik, und Adina beaufsichtigt diese Pflanzfabrik von einer metallenen Kontrollbrücke aus, stets bewaffnet mit Plastikhandschuhen, Reagenzglas und Pipette. Damit hat Anika Rutkofsky nicht nur diese Figur aufgewertet, sondern auch den Operntitel sehr viel allgemeiner gedeutet als sonst üblich. Und das macht Sinn, schließlich ist der Versuch des in Adina verliebten Nemorino, mittels eines Liebestranks die Aufmerksamkeit der Angebeteten auf sich zu lenken, letztlich nichts anderes, als Liebe durch eine Chemikalie zu erzeugen, so wie Adina Agrarerzeugnisse künstlich optimieren will: Die Chemie als Mittel zum Zweck.
Dem ist auch das Bühnengeschehen untergeordnet. Die „Landbevölkerung“ ist ein streng reglementiertes Laborpersonal, Nemorino hat seine Augen nicht auf die Pflanztöpfchen, sondern auf die Geliebte gelenkt und patzt bei der Arbeit. Die erotische „Chemie“ des Frauenhelden Belcore besteht offenbar aus seinen Pheromonen, denn er grapscht nach Frauenkörpern, wo sie sich nur zeigen, was Björn Bürger komödiantisch ausspielt, dabei die Figur aber auch an den Rand einer Karikatur bringt.
Laia Vallés (Gianetta), Staatsopernchor Stuttgart. Foto: Martin Sigmund
Und an der Stelle, an der Dulcamaras „Liebestrank“ auf den Boden verschüttet wird, sprießt sogar eine Blume. Wie überhaupt möglicherweise durch Dulcamaras Anwesenheit oder Adinas Zuchterfolge die Bühne alsbald zu einem Pflanzenparadies mutiert.
Das alles könnte man als Ingredienzien zu einer musikalischen Komödie deuten, wenn die Aktion auf der Bühne komödiantisch ausgefallen wäre. Doch Anika Rutkofsky ist bei der Lenkung der Figuren auf der Bühne sehr viel weniger eingefallen als zum Gesamtkonzept ihrer Bühnenwelt. Schon lange wurde an der Oper Stuttgart nicht mehr derart systematisch an der Rampe gesungen. Wenn Dulcamara mit seinem Warenkoffer seine Wundermittel anpreist, steht er vorn an der Bühnenkante und wendet sich dem Opernpublikum zu, derweil die Bevölkerung, respektive die Laborbesatzung, in Reih und Glied hinter ihm steht. Dabei wurde gerade er bei seinem ersten Auftritt brillant eingeführt. Der großsprecherisch seine minderwertigen Waren Anpreisende taucht hier zunächst als Schatten überlebensgroß an einer Fensterwand auf. In solchen Momenten erwächst szenische Handlung aus den Charakteren und ihren Lebensbedingungen heraus.
Wenn der Chor aktiv werden soll, etwa als Dorfbevölkerung, die das Gerücht von Nemorinos unerwarteter Erbschaft in Windeseile verbreitet, fiel der Regie nicht viel mehr ein als das aus Stummfilmen bekannte übertriebene Repertoire an Gestik und Mimik. So wird Oper leicht zu einer Art unfreiwilliger Selbstparodie.
Dass dennoch aus dem Abend eine quirlige Opernunterhaltung in bestem Sinn wurde, ist der Musik zu verdanken. Dirigent Michele Spotti arbeitete den Farbenreichtum von Donizettis Partitur brillant heraus, der vor allem in den Holzbläsern aufblüht. Und das passt genau zu Nemorinos Gesang, der musikalisch von Minute zu Minute mehr zum romantischen, fast tragischen Helden avanciert – vor allem, wenn er wie in diesem Fall von Kai Kluge in jeder Gefühlsnuance empfunden und stimmlich realisiert wird. Kluges Stimme in einer Kombination aus lyrischem Timbre und fast metallisch glänzenden Spitzentönen eignet sich wie kaum eine andere für diese Rolle (und ist auch für Mozartopern ideal). Sein Nemorino dürfte derzeit seinesgleichen suchen.
Das gilt auch für Dulcamara, der von Giulio Mastrototaro als perfekte Mischung aus witziger Übertreibung des reisenden Händlers und selbstironischer Relativierung der eigenen Wichtigkeit auf die Bühne gebracht wird, wobei Mastrototaro bestens das rasche Parlando beherrscht, das so viele Donizetti- und Rossini-Rollen prägt. Und die Adina von Claudia Muschio ist mit atemberaubenden Koloraturen und grandiosen Spitzentönen ganz die zunächst über allem stehende Heldin, bis sie am Schluss doch ihr Einsehen mit Nemorino – und mit ihrem eigenen Herzen – hat. Beide sind das ideale Donizetti-Paar – mit einem Nemorino, der sogar diese Adina noch übertrifft. Wer den möglicherweise besten Nemorinosänger derzeit überhaupt erleben will, kommt an Stuttgart nicht vorbei.