Sie zählt nicht zu den kürzesten Erzählungen in der Bibel, die Geschichte um den jungen Joseph, dessen Brüder auf ihn neidisch sind, weil der Vater ihn zum Liebling erkoren hat, und den sie nach Ägypten in die Sklaverei verkaufen und dem Vater als tot melden, aber auch sie nimmt nur rund ein Dutzend Seiten ein – im Unterschied zu Thomas Mann, der daraus ein Epos von weit über tausend Seiten machte. Als Oper in der Vertonung des Schweizers Gion Antoni Derungs dauert sie achtzig Minuten, anrührende Minuten, aber auch verstörende. Die Junge Oper, vor zwanzig Jahren an der Oper Stuttgart eingerichtet, um jungen Musikern erste professionelle Bühnenerfahrung zu ermöglichen, vor allem aber, um das Phänomen Oper einem jungen Publikum (dem Publikum der Zukunft) nahezubringen, hat die 2006 entstandene Oper nun in deutscher Erstaufführung auf die Bühne gebracht.
Archiv der Kategorie: Musik
Psychologie des Spiels – Tschaikowskis Pique Dame an der Oper Stuttgart
Es ist eine Oper der Widersprüche. Auf der einen Seite die leidenschaftliche Liebe zwischen Lisa und German, auf der anderen kühle Berechnung, wenn Lisa sich mit dem reichen Jeletzki verlobt. Hier die große Emotion, da das gierige Verlangen nach dem Spielgewinn am Kartentisch. Und auch musikalisch gibt die Oper Rätsel auf. Einerseits gibt die Musik die großen Gefühle romantisch wieder, auf der anderen zitiert sie die Rokokozeit eines Mozart. Diese Widersprüchlichkeiten sin die Basis für eine neue Inszenierung von Tschaikowskis Werk an der Oper Stuttgart.
Alles dichterische Fantasie? Demis Volpi inszeniert Brittens Death in Venice
1973 hatte Benjamin Brittens Opernversion von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig Uraufführung, zwei Jahre zuvor hatte Luchino Visconti seine Interpretation ins Kino gebracht. Beide verarbeiteten in diesen Werken ihre homoerotischen Neigungen, wie es ja 1911 auch schon der 36jährige Thomas Mann getan hatte. Visconti machte für die Leinwand aus dem Dichter Aschenbach einen an Gustav Mahler erinnernden Komponisten, Britten hielt sich in seiner Opernversion streng an die literarische Vorlage bis hin zur Endvision, in der der an Cholera erkrankte todkranke Dichter meint, der von ihm vergötterte Knabe Tadzio lächle und winke ihm zu, das, was er tagelang in Venedig erfolglos zu erreichen versucht hatte. Britten hatte in seinem Werk, in dem es vor allem um Schönheit und Ästhetik geht, Oper und Tanz kombiniert, so war es nur folgerichtig, dass die Oper Stuttgart nun die Regie für ihre Neuproduktion dem Hauschoreographen des Stuttgarter Balletts, Demis Volpi, übertrug.
Die Psychologie des Affekts: Jossi Wieler und Sergio Morabito deuten Händels Ariodante
Für Johann Christoph Gottsched, einen der führenden Literaturtheoretiker des 18. Jahrhunderts war sie „das unnatürlichste und ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden hat“: die Oper – und wenn es eine Epoche gibt, die wie ein Beleg für dieses Verdikt betrachtet werden kann, dann ist es das Barock. Hier entführt die Oper den Besucher in Märchenwelten, hier treten Zauberinnen auf, hier wird Rache geübt, leidenschaftlich geliebt und ebenso leidenschaftlich gehasst, alles auf höchster Kochstufe. Die Handlung dient weitgehend dazu, Figuren in Extremsituationen zu versetzen, Figuren dienen dem Zweck, glühende Affekte vorzuführen. Psychologie ist hier Nebensache, stringente Handlung auch. Das alles haben sich offenbar Jossi Wieler und Sergio Morabito vor Augen gehalten, als sie sich daran machten, Händels „Ariodante“ für die Oper Stuttgart zu inszenieren – auf faszinierende und zugleich verstörende Weise, beides extrem, versteht sich.
Der Ruch der bösen Tat. Peter Konwitschnys Stuttgarter Elektra-Inszenierung
Schuld ist, wie so oft in der griechischen Mythologie, der Trojanische Krieg. Bereitwillig übernimmt Agamemnon den Oberbefehl über die Griechen, um die Gattin seines Bruders Menelaos aus Troja wieder heimzuholen. Doch weil der Wind für die Seereise fehlt, opfert er seine Tochter Iphigenie. Das wird ihm zum Verhängnis, denn siegreich zurück vom Krieg wird er wegen der Opferung Iphigenies von seiner Frau Klytemnästra und deren Geliebten Aegisth getötet. So die Vorgeschichte von Richard Strauss‘ Oper Elektra.
Cancan im Schongang. Armin Petras contra Offenbach
Ein Orpheus, der nicht um seine verstorbene Eurydike trauert, eine Eurydike, die sich Schäferstündchen fern des Ehebetts sucht, ein Jupiter, der von seinen Untergöttern verlacht wird, eine Oper, die alle Opernuntugenden dem Spott aussetzt – Jacques Offenbach hat mit seiner „Opéra bouffe“ Orpheus in der Unterwelt all jene Traditionen und Werte, die die gesittete bürgerliche Welt in Ehren hielt, durch den Kakao gezogen und genau damit ein unsterbliches Meisterwerk geschaffen, sofern ihm nicht auf der heutigen Opernbühne der Garaus gemacht wird, denn Offenbach ist witzig, sein Witz aber sehr schwer in Szene zu setzen. Für die Oper Stuttgart hat sich jetzt der Stuttgarter Schauspielintendant Armin Petras am geistreichen Spiel versucht.
Auf den Straßen von Paris: Frank Castorf inszeniert Gounods „Faust“
Seit ihrer Uraufführung 1959 war sie ein Erfolg – Charles Gounods Oper Faust, und auf den französischen Bühnen hält dieser Erfolg bis heute an. Rund 5000 Mal kam die Oper hier zur Aufführung, und kein Sänger von Renommee ließ sich die Traumrollen entgehen – Nelli Melba, Lotte Lehmann, Mirella Freni gestalteten die Margarethe, Caruso, di Stefano, Domingo den Faust, Schaljapin, Pinza, Ghiaurov den Mephistopheles. Nur die deutschen Bühnen taten sich schwer, vielleicht wurde es lange als Sakrileg empfunden, dass der Faust des Dichterfürsten Goethe in Töne gefasst und noch dazu auf eine Liebesgeschichte reduziert wurde. Für die Oper Stuttgart hat Frank Castorf seine Sicht der Oper auf die Bühne gebracht, ein Regisseur, der berühmt ist für seinen bisweilen sehr eigenwilligen Deutungen der Stücke. Wer freilich einen Theaterskandal erwartet hatte, wurde enttäuscht.
Zwischen Trost und Verzweiflung – Musiken zur Nacht
Drei langsam von den Streichern leise intonierte Klänge, daraus ergibt sich eine zarte, einschmeichelnde Melodie – der zweite Satz in Mozarts berühmter „Kleinen Nachtmusik“, Inbegriff heiterer Entspanntheit, elegischer Versonnenheit im Dämmerlicht des Abends, schließlich handelt es sich ja auch um eine Abendmusik, eine Serenade. Düster-tiefe Klaviertonfolgen, grundiert von geradezu abgrundschwarzen Bässen – der Anfang von Beethovens gleichfalls berühmter „Mondscheinsonate“ – hier ist nichts von Abgeklärtheit zu spüren, hier zieht Grauen auf, so beispielsweise die Deutung des Pianisten Andras Schiff. Die Nacht hat viele Gesichter.
„Eine kleine Nachtmusik“ Serenade
Nachtmusik Notturno Mondscheinsonate“
Der Wahn als einzige Realität – Bellinis Puritaner an der Oper Stuttgart
Sie waren lange Zeit verschrien als Opern des reinen Schöngesangs, Belcanto in Höchstform, die von ihrer Handlung auf den oberflächlichen Blick hin nicht selten ein wenig haarsträubend wirkenden Musikdramen eines Donizetti oder eines Bellini – bis sie von Maria Callas in ihrer psychologischen Dramatik neu entdeckt wurden und durch Joan Sutherland zugleich mit dem ihnen zugrunde liegenden Belcanto stimmlich geadelt wurden. Jossi Wieler und sein Ko-Regisseur Sergio Morabito haben das Wagnis unternommen, in Stuttgart die drei großen Bellini-Opern mit neuen Sehweisen auf die Bühne zu bringen: Vor vierzehn Jahren die Norma – die Callas-Rolle schlechthin, vor vier Jahren die Nachtwandlerin, mit der ihnen die „Inszenierung des Jahres“ gelang, nun das vielleicht sprödeste der drei Werke: Die Puritaner“, angesiedelt im englischen Bürgerkrieg, in der sinnenfeindlichen Welt der Cromwell-Anhänger, der Bilderstürmer der englischen Geschichte.
Diana Haller (Enrichetta). Mitglieder des Staatsopernchores. Foto: A. T. Schaefer
Fragezeichen überwiegen: Alice im Wunderland bei der Jungen Oper Stuttgart
Wohl kaum ein Werk der Weltliteratur enthält so viele Fragezeichen wie Lewis Carrolls Alice im Wunderland. Da wird Alice gefragt, was sie denn im Reich der Herzogin zu suchen habe, und Alice fragt sich unablässig, wer sie eigentlich sei und warum sie mal zur Riesin anwachse, mal zur Liliputanerin schrumpfe. Ganze literaturwissenschaftliche Bibliotheken haben über Sinn und Unsinn der hier geschilderten Welt räsoniert, in der die Logik auf den Kopf gestellt wird und so märchenhafte Wesen wie der Schildkrötensupperich auftauchen. Kein Wunder, dass sich das Kino, vor allem der Trickfilm, das Medium der zauberhaften Metamorphose schlechthin, dieses Stoffs angenommen hat. Kein Geringerer als Tankred Dorst hat neben vielen anderen eine Version für das Sprechtheater erstellt, nur die Opernbühne musste warten, bis 2007 die Koreanerin Unsuk Chin eine Oper daraus machte, ihr folgte vor zwei Jahren Johannes Harneit, dessen Version nun Barbara Tacchini für die Junge Oper an der Oper Stuttgart inszeniert hat.
Victoria Kunze (Alice), Philipp Nicklaus (Weißes Kaninchen) Foto: Christoph Kalscheuer