Archiv der Kategorie: Ballett

Das Ich und die Gesellschaft: Jiří Kyliáns „Verfassungsballett“ One of a Kind

Da hatte die klassische Kultur offenbar einen hohen Stellenwert. So feierte die niederländische Regierung das 150jährige Jubiläum ihrer Verfassung nicht einfach nur durch Reden, sie wollte etwas Dauerhaftes und beauftragte den Direktor des Nederlands Dans Theater, Jiří Kilián, mit einem Ballett, und der – noch ungewöhnlicher – nahm sich zum Thema den ersten Satz dieser Verfassung: „Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt. Niemand darf wegen seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Anschauungen, seiner Rasse, seines Geschlechtes oder aus anderen Gründen diskriminiert werden.“ So geschehen 1998: One of a Kind. Jetzt hat das Stuttgarter Ballett diese Choreographie in sein Repertoire aufgenommen.

Miriam Kacerova. Foto: Stuttgarter Ballett

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Aus der Tradition in die Moderne: Shades of White am Stuttgarter Ballett

Es gab Kunstepochen, da galt die Übernahme eines musikalischen Satzes oder ein langes Zitat eines geschätzten Komponisten als Ausweis der Hochachtung vor dem Kollegen, zugleich reihte man seine eigene Kunst ein in die Reihe der hehren großen Werke. Spätestens seit dem Geniekult der Romantik und erst recht im 20. Jahrhundert gilt derlei eher als Beleg für eine gewisse Rückständigkeit. Dabei braucht das Neue das Alte wesensmäßig, sei es, um sich von ihm abzusetzen, sei es, um Entwicklungen deutlich zu machen. Selbst die Revolution – als extreme Umkehr oder Negation des Alten – kommt ohne die Tradition nicht aus. Dass auch ein unverhohlener Rückgriff auf Tradition Neues nicht ausschließen muss, zeigt ein Abend des Stuttgarter Balletts.

               Ensemble © Stuttgarter Ballett

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„Die Fantastischen Fünf“ – Ballettdirektor Reid Anderson nimmt mit fünf Uraufführungen Abschied vom Stuttgarter Ballett

Dem künftigen Intendanten des Stuttgarter Balletts, Tamas Detrich, könnte der neue Ballettabend zu denken geben. Als Marco Goecke, mit dessen neuem Stück der Abend endete, die Bühne betrat, regnete es aus dem Publikum Blumensträuße und der langjährige Stuttgarter Hauschoreograph erhielt Standing Ovations. Das war zum einen hymnisches Lob für seine Choreographie, mit der er ganz neue Wege beschritt, das war aber auch als Protestkundgebung zu interpretieren, denn Detrich hatte vor einigen Wochen bekanntgegeben, dass er Goecke in seiner Intendanz nicht mehr als Hauschoreograph beschäftige, den Künstler, dem die Compagnie in den vergangenen Jahren zwölf fulminante Uraufführungen verdankt.

© Stuttgarter Ballett

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Wehmutvolle Bilder einer besseren Welt. „Begegnungen“ beim Stuttgarter Ballett

In den USA polarisierte der Vietnamkrieg die Gesellschaft, und die Hippiebewegung suchte Liebe statt Krieg. In Deutschland revoltierten die Studenten in den späten 60er Jahren an den Universitäten gegen den Muff von tausend Jahren unter den Professorentalaren, und die RAF sorgte mit Mordanschlägen für Angst vor Terror von links. In dieser Zeit schufen zwei der renommiertesten Choreographen Ballette, die im Nachhinein wie ein Gegenentwurf zur Realität wirken. In den USA gestaltete Jerome Robbins 1969 eine Art idyllische Reminiszenz an schönere Zeiten mit seinen Dances at a Gathering und in Stuttgart präsentierte John Cranko mit seinen Initialen R.B.M.E. ein Plädoyer für Freundschaft und Kollegialität. Das Stuttgarter Ballett hat in seiner neuesten Produktion beide zu einem eigenen Abend verbunden: Begegnungen.

Jerome Robbins, Dances at the Gathering
Tänzer: Veronika Verterich, Friedemann Vogel © Stuttgarter Ballett
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Auf dem Schleudersitz? Hauschoreograph am Stuttgarter Ballett

Es brauchte nur eine große abendfüllende Choreographie, und der Argentinier Demis Volpi war in das Amt des Hauschoreographen am Ballett Stuttgart katapultiert. Noch während des Premierenbeifalls nach der Uraufführung von Krabat nach dem Roman von Otfried Preußler am 22. März 2013 überraschte Ballettdirektor Reid Anderson das Publikum mit dieser seiner
Entscheidung; Volpi, damals gerade einmal siebenundzwanzig, wurde neben Marco Goecke der zweite Mann in diesem Amt. Doch es bedurfte nur einer zweiten abendfüllenden Choreographie –
Salome -, und Volpi war diesen Posten auch schon wieder los. Anderson hätte ihm das Amt wohl schon nach der Premiere von diesem Ballett entzogen, wollte aber wohl Volpi nicht damit belasten, der für die Oper Stuttgart Benjamin Brittens Oper Tod in Venedig inszenieren sollte – was er mit überwältigendem Erfolg auch tat.

Anderson begründet seine Entscheidung damit, Volpis Begabung liege eher im Geschichtenerzählen und Theatermachen als in der Choreographie – eine seltsame Begründung, denn die Ernennung Volpis zum Hauschoreographen erfolgte nach einer Ballettversion eines Romans, und Romane erzählen per definitionem Geschichten. Zudem hatte Volpi für die Geschichte eindringliche, durchaus vom Tanz her bestimmte Bilder gefunden. Andersons Entscheidung, ihn wegen dieser Arbeit zum Hauschoreographen zu ernennen, war mehr als plausibel. Geschichtenerzählen war also kein Hindernis – und Volpi bekannte sich kurz danach ausdrücklich dazu.

Zugegeben, Volpis Salome glänzt nicht mit großen Tanzszenen, es ist eine Choreographie der bedeutungsvollen Gesten und der eindrucksvollen Bilder, auch wenn diese gelegentlich ein wenig allzu ästhetisch ausfielen – doch das ließe sich von der jungen Choreographin Katarzyna Kozielska auch sagen, etwa in ihrem Ballett Neurons; von ihr hält Anderson offenbar sehr viel. Er scheint übrigens eher allein mit seinem Urteil über Volpis Salome, denn die Arbeit wurde für den Tanzpreis Benois de la Danse nominiert. Außerdem brillierte Volpi nicht nur in der Sparte Handlungsballett, mit Aftermath gelang ihm ein dreißigminütiges Meisterwerk, in dem er mit rein tänzerischen Mitteln das Thema Individuum und Masse auslotet.

Mit Krabat schuf er einen Publikumshit und erhielt dafür den Deutschen Tanzpreis Zukunft. Die Rolle des Teufels in seiner Version von Strawinskys Geschichte vom Soldaten brachte der Ersten Solistin am Stuttgarter Ballett, Alicia Amatriain, den Deutschen Theaterpreis Faust ein. Das alles in der kurzen Zeit seit Krabat.

Seltsam ist außerdem, dass Anderson, der mit dem Stuttgarter Ballett eine Compagnie leitet, die vor allem durch die erzählerischen Handlungsballette eines John Cranko bekannt ist, sich nun gegen das Geschichtenerzählen wendet.

An Aufträgen dürfte es Volpi nicht mangeln, er ist ein weltweit angesehener und gefragter Choreograph, im Stuttgarter Ballett wird er fehlen – und sollte er demnächst bei Eric Gauthiers inzwischen sehr renommierter Tanztruppe am Stuttgarter Theaterhaus eine erfolgreiche Choreographie herausbringen, wie es vor ihm schon ein anderer Hauschoreograph des Stuttgarter Balletts getan hatte, dann wäre es pikant.

Zwischen Hell und Dunkel – Nachtstücke beim Stuttgarter Ballett

In der Nacht sollen zwar alle Katzen grau sein, doch keine Tageszeit dürfte derart voller Geheimnisse und Zwischentöne sein wie die Zeit zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. In der Malerei ist es der Bereich des Hell-Dunkel, was nicht heißen muss, des Schwarz-Weiß, in der Literatur ist es das Reich des Geheimnisvollen, auch des Schauders, der Gefahr, in der Musik ist es die Welt der klanglichen Raffinesse, der leisen Töne, der vagen Emotionen. Das Stuttgarter Ballett versucht nun mit einem neuen Programm, die Nacht in Tanz zu definieren.

Edward Clug: „Ssss…“. Tänzer: Hyo-Jung Kang, Pablo von Sternenfels ©Stuttgarter Ballett

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Und ewig lockt … Verführung als Inbegriff des Tanzes am Stuttgarter Ballett

Es gilt als das Buch der Verführung schlechthin, das Kamasutra (deutsch Verse des Verlangens), und Verführung ist das Wesen der Erotik. Doch Verführung birgt auch Gefahren, sie macht widerstandslos, besteht ihr Ziel doch darin, das Gegenüber von seinem eigentlichen Weg abzuführen. Folgerichtig sah der Soziologe Max Weber in der Verführung eine Form der Machtausübung und damit der Herrschaft. Verführung hat ein Janusgesicht – und genau dieses Doppelspiel führt ein neuer Abend beim Stuttgarter Ballett in vier Facetten vor.

Tänzer/dancers: Friedemann Vogel, Ensemble © Carlos Quezada

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Magie durch Tanz: Demis Volpis Handlungsballett Krabat

Spätestens seit John Cranko, der legendäre Schöpfer des Stuttgarter Ballettwunders, in den 60er Jahren das große abendfüllende Handlungsballett neu belebt hat, ist dieses Genre aus dem Repertoire des Stuttgarter Balletts nicht wegzudenken. Die großen Crankoballette nach literarischen Stoffen – Romeo und Julia, Eugen Onegin – sind fester Bestand, und mit dem langjährigen Hauschoreographen Christian Spuck erhielt es neue Impulse mit Lulu und Der Sandmann. Spuck ist inzwischen Ballettchef in Zürich. Jetzt hat Demis Volpi sich dieser Form angenommen: Er wurde als Tänzer in Stuttgart groß, tanzte die großen Rollen in den Handlungsballetten. Als literarische Vorlage wählte er sich das Jugendbuch Krabat von Otfried Preußler. Krabat ist eine Mischung aus Volksmärchentradition und Jugendbuch – um einen Zauberer, die Verführung zur Macht und die erlösende Liebe.

David Moore (Krabat), Roman Novitzky (Der Meister) © Stuttgarter Ballett

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Zwischen Genie und Wahnsinn: Marco Goeckes „Nijinski“ als Hommage an den Tanz

Er ist bis heute eine Legende des Tanzes: Waslaw Nijinski: Die Zeitgenossen rühmten seine Grazie, bestaunten seine Sprungtechnik, bei der er den Sprung in der Luft anzuhalten schien, sie berauschten und empörten sich an der sexuellen Ausdruckskraft seiner Bewegungen; die Nachwelt feiert ihn als Erneuerer der Tanzkunst. Zusammen mit dem Ballettimpresario Sergej Diaghilew führte er das klassische Ballett über in den Tanz der Moderne. Und er verkörpert das tragische Schicksal eines Frühvollendeten mit dem Absturz in den Wahnsinn; die Hälfte seines Lebens, dreißig Jahre, verbrachte er in psychiatrischen Kliniken. John Neumeyer hat im Rückblick sein Leben nacherzählt, Maurice Bejart hat ihn als Clown der Götter auf die Bühne gebracht, jetzt hat Marco Goecke für die Gauthier Dance Company im Stuttgarter Theaterhaus eine Hommage für das Tanzgenie kreiert.

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Garazi Perez Oloriz, Foto: Regina Brocke

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Eine Frau zwischen Mond und Monster – Salome als Ballett in Stuttgart

In der Bibel hat sie keinen Namen: die Tochter der Herodias, die im Zusammenhang mit Johannes dem Täufer Erwähnung findet. Im 19. Jahrhundert avancierte sie zum Inbegriff von lasziver Erotik und Grausamkeit, Oscar Wilde machte sie zur Titelfigur eines Meisterwerks des Fin de siècle mit einer nahezu orgiastisch farbenreichen Sprache, und Richard Strauss setzte Wildes Drama kongenial in rauschhafte Musik um. Nun hat Demis Volpi, der Hauschoreograph am Stuttgarter Ballett, den Stoff für die Ballettbühne bearbeitet, und auch er hielt sich wie Richard Strauss eng an Wildes Text.

Salome Chr: Demis Volpi Tänzer/dancers: Alicia Amatriain (Der Mond) (C) Stuttgarter Ballett

Alicia Amatriain (Der Mond) (C) Stuttgarter Ballett

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