Ein Orpheus, der nicht um seine verstorbene Eurydike trauert, eine Eurydike, die sich Schäferstündchen fern des Ehebetts sucht, ein Jupiter, der von seinen Untergöttern verlacht wird, eine Oper, die alle Opernuntugenden dem Spott aussetzt – Jacques Offenbach hat mit seiner „Opéra bouffe“ Orpheus in der Unterwelt all jene Traditionen und Werte, die die gesittete bürgerliche Welt in Ehren hielt, durch den Kakao gezogen und genau damit ein unsterbliches Meisterwerk geschaffen, sofern ihm nicht auf der heutigen Opernbühne der Garaus gemacht wird, denn Offenbach ist witzig, sein Witz aber sehr schwer in Szene zu setzen. Für die Oper Stuttgart hat sich jetzt der Stuttgarter Schauspielintendant Armin Petras am geistreichen Spiel versucht.
Natürlich sind die beiden Kultszenen dieser Operette auch in dieser Inszenierung die Höhepunkte. Der grandiose Schauspieler André Jung gestaltet den Styx, den Bewacher in Plutos Unterwelt, mit der idealen Mischung aus Komik und Melancholie, Restlibido und Lethargie. Und wenn gleich danach Jupiter, der seine Eroberungen ja gern in Gestalt eines Tieres macht – ob als Schwan oder als Stier –, bei Offenbach Eurydike als Fliege bezirzen will, summt er bei Petras in einem überdimensionalen Insektenkostüm seine Liebesschwüre. Michael Ebbecke bringt hier stimmlich wie schauspielerisch eine Glanzleistung auf die Bühne. Hier darf er sein komödiantisches Talent beweisen, bis hin zum Menuett in der Unterwelt. Und Petras sind für diese Szene so viele szenische Einfälle geglückt, dass wahre Offenbachfreude aufkommt. Bacchus, der bei seinem Onkel Pluto in der Unterwelt aushilft, versucht, den Eindringling abzuwehren – mit einer überdimensionalen Fliegenklatsche, die freilich eher ihn beherrscht, als dass er sich ihrer bedienen könnte. Am Ende fängt er seinen Vater Jupiter mit Leim, den er auf ein Holzbrett streicht – eine etwas andere Art des Fliegenfängers.
Doch diese zwei geistreich-witzigen Szenen bleiben Ausnahme. Ansonsten glänzt diese Inszenierung durch Abwesenheit von Esprit. Es scheint, als habe sich bei Petras die Langeweile, unter der die Götter auf dem Olymp bei Offenbach dahinschlummern, über die ganze Operette gelegt.
Dazwischen schlägt Regisseur Armin Petras auch ernste Töne an. Wie Frank Castorf in seiner Stuttgarter Inszenierung von Gounods Oper „Faust“ siedelt er das Geschehen zur Zeit der Entstehung der Operette an, also im Zweiten Kaiserreich, und zeigt mit Filmeinblendungen die krasse Realität, unter der all jene zu leiden hatten, die nicht zur vergnügungssüchtigen Oberschicht gehörten: Armut,Schinderei in der Fabrik. Wie Castorf zeigt auch Petras in einer Filmeinblendung seine Heldin in der Fabrik, aus der erst der berühmte Geiger Orpheus sie befreit, indem er sie ehelicht und einem Leben in erotischem Genuss – wenn auch fernab des heimischen Herds – zuführt. Josefin Feiler, zu deren Repertoire Sopranrollen der leichteren Art zählen wie Marzeline im Fidelio und Ännchen im Freischütz – Rollen, die gleichwohl schwer zu singen und noch schwerer zu spielen sind -, bringt dieses lebenslustige Wesen keck und quicklebendig auf die Bühne; ihre Eurydike langweilt sich in den Fängen des Unterweltherrschers Pluto, bei dem sie ein erotisches Lotterleben erwartet hatte, und blüht schließlich als Bacchantin auf.
Und wie bei Castorf gehört zu dieser Kehrseite der vergnügungssüchtigen Welt auch der Krieg. Nur wird der in Gounods Oper tatsächlich thematisiert, während solche Szenen in Petras‘ Inszenierung aufgepfropft wirken.
Am Ende landet Eurydike bei ihm wieder dort, wo sie angefangen hat, in der Atmosphäre der Fabrikarbeit, die hier die Unterwelt prägt. Doch damit widerspricht seine Inszenierung eklatant der Musik. Die Unterwelt, in die sich bei Offenbach die Götter nur zu gern flüchten, um der olympischen lähmenden Langweile zu entfliehen, entpuppt sich für die dort schmorenden Verblichenen als die Weiterführung ihrer irdischen Existenz. Von Ausgelassenheit, gar „verantwortungsloser Heiterkeit“, wie Karl Kraus es einmal formulierte, keine Spur. In Petras‘ Unterwelt herrscht ähnliche Schläfrigkeit wie auf seinem Olymp. Wenn dort die Götter sich der Reihe nach über die von Jupiter so geliebten Verkleidungen bei seinen Verführungen lustig machen, sitzen sie mehr oder weniger untätig auf der Bühne verteilt herum. Das ist von ihm durchaus gewollt und in sein Konzept passend, nimmt aber der Aufführung das, was zur Cancanseligkeit eben auch gehört: Tempo.
Wenn Jupiter das Treffen mit Orpheus und der personifizierten „Öffentlichen Meinung“ (souverän grandios verkörpert von Stine Marie Fischer) bevorsteht, ordnet er erst umständlich die ganze Göttergesellschaft auf der Bühne an. Das lässt jede Aktion im Sand versiegen, tötet jeden Witz ab. Dieser Mangel an Esprit, an funkelndem Witz, legt sich über weite Strecken lähmend auf ein Werk, das denn doch gerade davon lebt: vom geistreichen Spiel mit Konventionen und Begierden. Es sollte gelacht werden bei Jacques Offenbach, in dieser Inszenierung stellte es sich nur zögernd ein, wenn überhaupt. Jacques Offenbach ist da längst schon auf der Strecke geblieben.