Ein gelungener Roman ist ein wahres Wunderwerk. Nur aus Wörtern ersteht eine fiktive Welt, die es ausschließlich nicht in diesem Roman gibt, sondern durch ihn, in der Fantasie des Lesers – eine Welt besiedelt von Figuren, die gleichfalls irreal sind und doch für den Leser eine Realität annehmen, die die der realen Menschen um ihn herum nicht selten übersteigt. Mit seinem bislang wohl besten Roman Was vom Tage übrig blieb gelang Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro das Kunststück, weit mehr als nur einen Roman zwischen zwei Buchdeckeln unterzubringen.
Vordergründig entführt der Roman den Leser in einen Bereich der englischen Kultur und Gesellschaft, der längst Geschichte sein dürfte, obwohl er das Publikum auch im 21. Jahrhundert zu faszinieren scheint, wie der Erfolg der Fernsehserie Downton Abbey zeigt, die es sogar auf die Kinoleinwand geschafft hat – die Welt des englischen Landadels, des Herrenhauses mit seinem umfangreichen Personal, das hinter den Kulissen für einen reibungslosen Ablauf des Adelslebens sorgt, angeführt von einem Butler, der in dem Reich hinter den Kulissen fast unumschränkt regiert, gleichwohl jenseits der düsteren Gänge und Kammern eine rein dienende Funktion hat. Perfektes Exemplar dieser Spezies ist der von Ishiguro erfundene Butler Stevens, der sein Amt auf Darlington Hall bis zur Selbstaufgabe erfüllt, sodass er sogar den Tod seines im Sterben liegenden Vaters verpasst, weil er den Dienst im Salon für wichtiger hält. Dem Verstorbenen die Augen schließen muss die Haushälterin Miss Kenton, die Stevens ausgewählt hatte, die jedoch bei durchaus verwandtem Pflichtethos eine Gegenposition einnimmt: Sie setzt sich gegebenenfalls auch gegen die Wünsche der Herrschaft für das Personal ein, während Stevens zwar nicht gern, aber pflichtschuldigst zwei jüdische Dienstmädchen entlässt, weil sein Herr es so will.
Denn Lord Darlington – und damit öffnet sich ein zweiter Roman, politisch wohl noch brisanter – hängt dem Faschismus an, empfängt insgeheim auf seinem Landsitz Vertreter der Nazis. Was Miss Kenton und andere zum zumindest leisen Widerspruch herausfordert, trifft bei Stevens auf einen Mangel an Problembewusstsein und eine durch seinen Beruf hervorgerufene Blindheit. Sein Vertrauen in die Herrschaft ist unerschütterlich –
– und damit befinden wir uns in einem psychologischen Roman. Es geht um die Frage, wie in einer fest geregelten sozialen Ordnung der Einzelne seine Rolle und Funktion erfüllen und doch seine eigene Meinung ausbilden und behaupten kann. Miss Kenton kann es und verlässt schließlich das Herrenhaus. Stevens bleibt und erlebt den Zusammenbruch der alten Herrschaftsordnung nach dem 2. Weltkrieg. Darlington wird verfemt ob seiner politischen Aktivitäten und Ansichten und stirbt. Darlington Hall fällt an einen amerikanischen Millionär – der vierte Roman in diesem gar nicht so umfangreichen Buch. Er zeigt den Zusammenbruch der jahrhundertealten englischen vom Landadel geprägten Gesellschaft. Für Stevens bedeutet es, das stark ausgedünnte Personal wieder aufzustocken, und wie selbstverständlich geht er davon aus, Miss Kenton zur Rückkehr bewegen zu können. Sie hatte ihm einen Brief geschrieben, in dem er eine Bereitschaft ihrerseits herauszulesen meint. Stevens begibt sich im Auftrag seines neuen Herrn in dessen Auto auf die Fahrt nach Cornwall, ihrem neuen Wohnsitz. Unterwegs kommt er wegen einer Autopanne mit der Landbevölkerung in Kontakt – und erlebt zum ersten Mal in seinem Leben das Alltagsleben Englands, das er, dessen Vater gleichfalls Butler gewesen war, nie erfahren hat.
James Ivory, hervorgetreten mit faszinierenden Verfilmungen von Romanen von E.M. Forster, hat Ishiguros Buch 1993 verfilmt und grandios das Leben auf Darlington Hall in Szene gesetzt. Der Filmkritiker Roger Ebert hatte bei seiner Lektüre des Romans gemeint, er sei unverfilmbar, Ivorys Film aber habe ihn eines Besseren belehrt. Hier irrt Ebert. Ivory hat die politische Dimension (Darlingtons Faschismuspläne) und die Atmosphäre im Haushalt eingefangen, doch das ist in Ishiguros Buch letztlich nur der Hintergrund für den eigentlichen Roman. Denn zentral ist ein Thema, das den Autor drei Jahre zuvor auch in seinem Roman Der Maler der fließenden Welt umgetrieben hatte: Inwieweit ein Mensch sich ein Bild von sich selbst zimmern kann, das mit dem eigentlichen nichts zu tun hat. Im Fall von Stevens geht das so weit, dass dieser hundertprozentige Butler nicht in der Lage ist, die Welt um sich herum auch nur einigermaßen objektiv wahrzunehmen. Die Hinweise, Miss Kenton wolle nach Darlington Hall zurückkehren, die er ihrem Brief zu entnehmen glaubte, sind hineingelesen, der Welt der Dorfbevölkerung, der er auf seiner Reise begegnet, traut er sich nicht, seinen wahren Beruf mitzuteilen, stattdessen gibt er sich als Gentleman aus, und in der Zeit, als Miss Kenton auf Darlington Hall arbeitete, merkte er nicht, dass sie mehr in ihm sah als einen Vorgesetzten. Das Korsett, das die Pflichterfüllung als Butler seinem ganzen Leben aufgezwungen hat, hat auch seine Wahrnehmungsfähigkeit gestört. Wir erleben einen realitätsgestörten, durch sein vollständiges Aufgehen im Butlerberuf zu einer extrem reduzierten Wahrnehmung verkrüppelten Menschen. Das ist der eigentliche Roman von Ishiguro, und den hat Ivory nicht filmisch realisiert, vielleicht, weil er nicht zu realisieren ist. Diesen Roman kann man nicht auf der Leinwand erleben, diesen Roman muss man lesen.
Kazuo Ishiguro, Was vom Tage übrig blieb. Blessing Verlag. 288 Seiten, 22 Euro. Paperback: btb, 9.99 Euro