Lesen gilt als einsame, vor allem bewegungsarme Beschäftigung. Man sitzt, man blättert die Seiten um. Bücher gelten als in sich ruhendes Medium: Eine Anzahl von bedruckten (oder handgeschriebenen) Blättern zwischen zwei Deckeln. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach ist der Inbegriff dieser „Statik“, schließlich ruhen dort Abertausende von Büchern in den Archiven. Und doch hat jetzt ausgerechnet dieses Archiv seine neue große Wechselausstellung „Dem bewegten Buch“ gewidmet.
Foto: DLA Marbach
Es ist kaum vorstellbar, aber „Shades of Grey“, jener Erotikthriller, der in England schneller ausverkauft war als jedes andere Buch (die „Harry Potters“ inbegriffen!), hat seinen Weg in das ehrwürdige Literaturarchiv in Marbach gefunden. Der Grund: Ein Reisender hatte das Buch in der Bahn liegen lassen – entweder versehentlich oder aus Absicht, weil es möglicherweise doch nicht seinen Geschmack getroffen hatte. Drei Monate lang hatte die Bahn auf Bitten des Archivs solche Bücher gesammelt, und neben dem Erotikschinken finden sich auch höchst seriöse Publikationen: eine hebräische Bibel etwa oder auch juristische Fachliteratur. Die Bücher dieser „Bahnsammlung“ erwarten Besucher des Marbacher Literaturmuseums bereits im Foyer. Dort lagern sie in offenen Kartons. Eine ideale Einführung in das Thema der Ausstellung, denn sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Bücher, die bewegt wurden. Die Bahn hat solche vergessenen oder auch bewusst ausgesetzten Bücher für die Ausstellung gesammelt.
Dass auch dicke Wälzer auf Reisen mitgenommen werden, überrascht, denn natürlich spielt das Buchformat ein Rolle, wenn es um „bewegte Bücher“ geht, und in der Bahn sollte man handlichere Ausgaben erwarten. So findet sich denn auch in der Ausstellung eine Abteilung zum Thema Taschenbuch in seinen unterschiedlichsten Formaten, und die hatten ihre Anfänge interessanterweise in unhandlicher Zeitungsgröße. Dann kamen direkt aus der Rotationspresse – Rowohlts Rotationsromane – rororo.
Aber Bücher werden nicht nur von Lesern auf Reisen mitgenommen, sie nehmen den Leser ihrerseits auf eine Reise mit. Cervantes lässt den Leser auf den Spuren von Don Quichotte folgen.
Foto: DLA Marbach
Peter Handke machte aus dieser Reise im Kopf des Lesers eine echte Reise, folgte mit dem Buch in der Hand den Spuren des Ritters von der traurigen Gestalt in Spanien – und hielt seine Beobachtungen in Notizen in diesem Buch fest. So führt ein Buch in eine reale Landschaft und diese Landschaft wird ihrerseits zum Satz, zum Buch.
Von Christoph Ransmayr sind in der Ausstellung fabrikneue, noch eingeschweißte Moleskin-Notizbücher zu sehen, die er stets auf seine Reisen mitnimmt und in die er dann Notizen schreibt, die nicht selten später in seine Bücher eingehen, wie zum Beispiel in seinen „Atlas eines ängstlichen Mannes“. Hier werden potentielle Bücher durch das Reisen erst zu richtigen.
Die längste Reise haben die Bücher in der Ausstellung hinter sich, die Christian Kracht und Eckart Nickel in ihrer Kathmandu-Bibliothek versammelt haben. Zwei Jahre lang lebten sie dort und kauften täglich ein gebrauchtes Buch, das Reisende nach Kathmandu gebracht und dort im Antiquariat verkauft hatten.
Doch die Bewegung, die ein Buch erfährt, ist keineswegs nur äußerlicher Natur. Streng genommen ist jedes Buch in Bewegung, nicht nur, indem es von A nach B transportiert wird, etwa von der Buchhandlung nach Hause. Bereits durch jedes Lesen wird ein Buch in Bewegung versetzt, denn ein Buch ist mehr als nur ein Konvolut von Blättern in einem Einband. Ein Buch ist ein Text, der erst durch das Lesen zum Leben erweckt wird, und diese Bewegung hinterlässt im Buch nicht selten Spuren, und diese Spuren lassen Rückschlüsse darauf zu, wie dieses Buch gelesen wurde – beispielsweise laut, wenn der Leser versuchte, Betonungszeichen zu setzen, Alliterationen einzuzeichnen, Doppelpunkte, Gedankenstriche, Kommas, also Zeichen der Intonation. Nelly Sachs hinterließ solche Spuren, nicht verwunderlich bei einer Lyrikerin.
Es kann auch geschehen, dass nur Teile eines Buches bewegt werden, sprich entfernt – und durch anderes ersetzt werden. So finden sich in einer Robert Walser-Ausgabe nach Seite 18 sauber eingebunden Gedichte, die Bertolt Brecht im Exil in Paris veröffentlicht hatte.
Aúsgehöhlte Ausgabe von Michael Chrichtons „Enthüllung“ aus der LVA Münster. Foto: DLA Marbach
Und manches Buch, das einem Gefängnisinsassen zugeschickt wurde, ist ausgehöhlt und bietet Platz für Drogen oder gar Waffen.
So ist die Ausstellung letztlich eine geradezu philosophische Diskussion über das Wesen Buch. Dabei sind die Kuratoren allerdings mitunter über das Ziel hinausgeschossen. Eine Lazarettbibliothek führt das Thema „bewegtes Buch“ nicht weiter. Raubdrucken, denen eine ganze Vitrine gewidmet ist, lassen sich allenfalls über einen kühnen Gedankensprung mit dem Thema „bewegtes Buch“ in Verbindung bringen (der ursprünglich bei einem Verlag angesiedelte Text wandert illegitimerweise zu einem anderen). Auf diese Weise ist die Ausstellung überfrachtet. Eines aber ist deutlich: Will ein Buch leben, muss es in Bewegung kommen, sonst ist es tot.
„Das bewegte Buch“. Literaturmuseum der Moderne, Marbach, Dienstag – Sonntag, 10-18 Uhr. Marbacher Magazin 150-152, 188 Seiten, 20 Euro