Es war kühn, dass Mozart sich 1776 entschloss, das Stück Der tolle Tag von Beaumarchais zu einer Oper zu machen, denn dessen Aufführung war in Wien verboten. Und auch heute ist es voller politischer Brisanz. Man kann es als Anklage gegen den Adel bzw. Obrigkeit allgemein verstehen, es ist auch für die Metoo-Debatte von Relevanz, schließlich will hier ein Graf seine Position ausnutzen, um ein Dienstmädchen zum Sex zu zwingen – idealer Stoff für ein Regietheater von heute. Als Jean-Pierre Ponnelle die Oper 1977 für die Wiener Staatsoper inszenierte, war Regietheater allerdings erst im Entstehen und von einer Metoo-Debatte keine Rede. Ponnelle setzte auf Psychologie – und kam damit Mozarts Musik durchaus entgegen. Jetzt steht die Inszenierung wieder auf dem Wiener Spielplan.
Louise Alder (Susanna), Andrè Schuen (Conte d’Almaviva) © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Und Ponnelle macht denn auch deutlich, worum es dem Grafen geht. Auch wenn er auf das ius primae noctis offiziell verzichtet hat, das alte Recht eines Gerichtsherrn, bei der Heirat zweier ihm unterstehender Personen die erste Nacht mit der Braut verbringen zu dürfen, will er doch auf den Genuss keineswegs verzichten. So versucht er denn auch, kaum ist er mit Susanna, der Braut seines Kammerdieners Figaro, allein, ihr körperlich nahezukommen. Selbst als er sich, als eine dritte Person ihre Zweisamkeit stört, hinter einem Sessel verbirgt, kann er es nicht lassen, aus dem Versteck nach ihr zu grapschen. Anklagend freilich wird das nicht inszeniert, Ponnelle nimmt hier die Reaktionen der Figuren auf dieses Ansinnen sehr ernst. Sie wollen die Pläne des Grafen zunichte machen, allerdings nur mit List, und da geht Susanna im 3. Akt scheinbar auf seine Avancen ein und lässt, um glaubhaft zu wirken, bei Ponnelle sogar ein Küsschen zu.
Daher sind die beiden Brautleute in dieser Inszenierung gleich zu Beginn denn auch alles andere als ausgelassen glücklich ob der bevorstehenden Hochzeit, denn die Tatsache, dass der Graf ihnen ein Zimmer gleich neben dem seinen zugewiesen hat, lässt, wie Susanna ihrem eher arglosen Figaro zu verstehen gibt, auch nach der Eheschließung nichts Gutes vermuten.
Philippe Sly (Figaro) © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Ponnelle ist ein genauer Leser von Libretti und Partituren und macht deutlich, dass dieser Figaro genau genommen alles andere als ein revolutionärer Geist ist. Wenn er dem Grafen im 1. Akt droht, er solle sich in Acht nehmen, wenn er ein „Tänzchen wagen“ wolle, so die deutsche Übersetzung, dann sitzt er lässig im Sessel und malt sich genüsslich aus, wie das wohl sein werde. Mehr als ein solcher Traum aber wird nicht daraus, und so ist Figaro hier zu Recht eher ein junger Mann, der in sich noch den Lausbuben bewahrt hat. Philippe Sly findet für diese Charakterisierung die idealen Töne. Sehr differenziert gestaltet er die jeweiligen Situationen stimmlich, stellt dem jungen Cherubino die Existenz als Soldat plastisch vor, die ihm droht. Das ist brillante Charakterisierung mit rein stimmlichen Mitteln.
Auch der Graf wird von Ponnelle sehr klar gezeichnet. Wenn er seinen Kontrahenten im 3. Akt Rache schwört, dann tut er das mit einem Arientyp der Opera seria; die aber war zu diesem Zeitpunkt bereits als Mode passé, der Graf entlarvt sich als einer vergangenen Epoche angehörig; und so zieht er in dieser Szene einen Mantel mit Hermelinkragen an, stülpt sich am Ende sogar noch eine Perücke über – und verwandelt sich in einen Feudalherrn alter Zeit. Andrè Schuen macht das klangschön, arbeitet allerdings stimmlich die Tiefen dieser Figur wenig heraus.
Ganz im Gegensatz zu Louise Alder. Ihre Susanna ist die List in Person. Ihre Ideen, wie sie dem lüsternen Grafen entkommen kann, scheinen nur so zu sprudeln. Das ist mimisch und gesanglich ein Genuss und wird stimmlich, wenn auch nur um eine Nuance, von Federica Lombardi übertroffen, die die Gräfin klangschön, mit einer ausgesprochen jugendlichen, lyrisch vollen Stimme gestaltet und dabei rein musikalisch die seelischen Tiefen einer verletzten Frau zum Ausdruck bringt.
Federica Lombardi (Contessa d’Almaviva) © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
Ponnelles Inszenierung ist psychologisches Operndrama, dem man freilich das Alter anmerkt, zumal 2021, über vierzig Jahre nach ihrer Entstehung, der Opernbesucher – wenn manchmal auch durch allzu viel Regieeinfälle enerviert – eine Hinterfragung der Opernstoffe gewöhnt ist. Diese Figaro-Inszenierung ist ein opulenter Augenschmaus – nicht weniger, aber eben auch nicht viel mehr.
Die Inszenierung ist vom 11.2.2021 19 Uhr an 24 Stunden als Stream abrufbar: