Bizets „Carmen“ leidet am Postkartenklischee ihrer Rezeptionsgeschichte. Bizets Titelfigur scheint festgelegt auf die selbstbewusste Frau, die Verführertin schlechthin, ja sogar den Vamp – eine Vorläuferin von Alban Bergs Lulu. Regisseur Sebastian Nübling scheint vordergründig diesem Klischee zu folgen, und doch bricht er es zugleich auf. Er niszeniert nicht die tragische Liebesgeschichte des in die hübsche temperamentvolle Frau vernarrten Sergeanten Don José, er inszeniert all jene Männerträume, die zu dem Zerrbild dieser Carmen geführt haben.
Wenn das Vorspiel zu dieser Oper erklingt, dann ist die Handlung eigentlich schon vorüber. Don José sitzt verzweifelt in seinem Zimmer auf einem Sessel unter einer Stehlampe, der Fernsehapparat läuft – übrigens immer mit demselben Programm, einem wachsamen Auge – es soll das der Mutter sein, doch das erschließt sich dem Besucher nicht unbedingt, obwohl es nicht unwichtigist. Vor ihm liegt Carmen, die er soeben getötet hat, weil sie seine Liebe nicht mehr erwidern wollte. Und die psychologische Ursache für diese Tat sitzt auch dabei; Regisseur Sebastian Nübling hat Don José ein Alter Ego beigesellt, gewissermaßen die schwarze Begierde in nach außen hin doch so unschuldigen Sergeanten José. Wie ein Alb sitzt er ihm, in grünes Trikot gewandet, auf der Schulter.
Die Handlung der Oper läuft noch einmal gewissermaßen vor dem geistigen Auge des Helden und vor uns ab: die schicksalhafte Begegnung mit Carmen, die Begegnung mit dem Bauernmädchen Micaela aus seinem Dorf, die ihm einen Brief von seiner Mutter bringt und die bei Nübliing allerdings eher eine Politesse zu sein scheint in blauer Uniform mit Käppi.
Dieses Regiekonzept – die Oper als Albtraumvision des gescheiterten Helden – hat freilich ihre Tücken. So neigt Nübling dazu, die Oper in lauter Einzelbilder zu zerlegen, dadurch wird der schrittweise Niedergang des feschen Sergeanten im Staatsdienst zum Mitläufer von Schmugglern und schließlich zum Mörder aufgelöst. Hier ist der Niedergang von Anfang sichtbar. Zudem läßt Nübling in diesen vereinzelten Szenen die Sänger nicht selten einfach ihre Arien an der Rampe singen,
Foto: A.T. Schaefer
und der Chor wird häufig nur wie eine starre Masse über die Bühne bewegt. Und warum aus zigerunern Gaukler werden mußte, bleibt unerfindlich. Harsche Buhs neben Beifall für Nübling.
Aber sein Konzept ist in sich schlüssig und stringent durchgezogen – und führt zu eindrucksvollen Szenen. Jedes Detail folgt der Perspektive des Helden, alles folgt der Logik des Albtraums: So treten Josés Soldatenkollegen wie er im gleichen Unterhemd auf; wenn die Mädchen aus der Zigarettenfabrik gegen Carmen Stellung beziehen, tragen sie alle die Uniform der Micaela, weil sie in diesem Augenblick Gegenspielerinnen der Carmen sind.
Dabei stimmt das mit der Gegenspielerin nur bedingt. Am Ende des 3. Aktes übermittelt Micaela bei Bizet die Botschaft, die Mutter liege im Sterben, und José beschließt, die Mutter zu besuchen.
Foto: A.T. Schaefer
Bei Nübling rückt Micaela zwei Sessel unter die Stehlampe und den Fernseher dazu zu einem gemeinsamen gemütlichen Fernsehabend, und das Programm ist – der wachsame Blick der Mutter. Selten macht eine Inszenierung so deutlich, daß José nicht zwischen zwei jungen Frauen steht – Micaela und Carmen -, sondern zwischen seiner Mutter und Carmen – und damit zwischen zwei Lebensprinzipien: der braven Bürgerlichkeit und dem gefährlichen Abenteuer.