Sie zählt zu den ältesten erhaltenen Kunstwerken überhaupt – die Skulptur, nicht zuletzt, weil sie bereits in der Antike aus Stein hergestellt wurde, daher auch der Begriff, abgeleitet vom lateinischen Verb für „schnitzen“ oder „meißeln“. Nicht durch „Abtragung“ von Material, sondern durch aufbauendes Hinzufügen entstehen Plastiken. Beiden gemeinsam: sie sind raumgreifend, dreidimensional. Im 20. Jahrhundert hat sich das Formen- und Materialspektrum erweitert bis hin zu den Readymades aus Alltagsobjekten eines Marcel Duchamp. Für den alle zwei Jahre verliehenen Sparda-Kunstpreis Kubus wurde diesmal das Thema „Zeitgenössische Bildhauerei“ vorgegeben. Das Kunstmuseum stellt drei Positionen vor: Ulla von Brandenburg, Camill Leberer, Ülkü Süngün.
Dem Auswahlkriterium entsprechen die Arbeiten von Camill Leberer durchaus, und zwar im höchst modernen Sinn. Der Amerikaner Donald Judd hatte schon in den 60er Jahren einfache, meist riesige Boxen etwa aus Holz oder Stahl in den Raum gestellt, Leberer baut solche Raumgebilde meist aus mehreren Materialien: Bevorzugt: Stahl und Glas bzw. Plexiglas. Dabei arbeitet er nicht selten gegen die Materialeigenschaften. Die Stahlflächen bürstet er, sodass sie ihren Eindruck von Schwere und Undurchlässigkeit verlieren und haptisch, fast weich, ja malerisch wirken. Das Glas wiederum kombiniert er oft mit Licht, sodass seine glatte transparente Oberfläche weich wird, diffus, über die eigentlichen Flächenmaße hinaus erstrahlt. Die Materialien erhalten so etwas Immaterielles. Vor allem greifen die Arbeiten durch das weithin scheinende und sich mehrfach brechende Licht weit über ihre Formgrenzen in den Raum hinein, werden entgrenzt, ziehen den Umraum mit in den Gesamteindruck der Plastik ein. So sind selbst seine an der Wand hängenden zweidimensionalen Arbeiten von Raum eröffnender Tiefe und werden zu transparenten Reliefs. Damit bewegen sich seine Arbeiten zwar durchaus im Formspektrum des modernen Skulpturenbegriffs, weiten ihn aber aus zu einer Lichtkunst, machen augenfällig, dass ein Objekt nicht einfach nur im Raum steht, sondern diesen Raum als Umfeld zugleich verändert.
Ähnliches lässt sich von Ulla von Brandenburg sagen, nur dass sie nicht Objekte in den Raum stellt. Ihr Arbeitsmaterial ist der Raum selbst. Für die Stuttgarter Ausstellung hat sie mehrere Räume mit zum Teil einfachen Mitteln geschaffen. In das abgedunkelte Entree hat sie kunstvoll Tücher gehängt, die als Leinwände für Filmprojektionen dienen. Der Besucher bewegt sich in dieser leicht schwankenden Tuchinstallation wie in einem Traum. In den Filmen begegnen ihm die scheinbar schwebenden Dinge wie einem Kapitän Nemo in Jules Vernes Roman 20 0000 Meilen unter dem Meer. Einen anderen Raum hat sie mit Teppichen verhängt; man fühlt sich wie ein winziger Schauspieler in einer riesigen Theaterkulisse. Dann wiederum hat sie den Eindruck erweckt, als befände man sich in einem Museumsraum, in dem die Kunstwerke an der Wand abhanden gekommen sind; zu sehen sind nur dunkle Flecken an den Wänden, als hätten dort bis vor kurzem noch Bilder gehangen. So kann der Besucher faszinierende Raumerfahrungen machen und sich zum Fantasieren anregen lassen, sich aber auch einfach nur dem Raumgefühl hingeben.
Ohne reflektierende Mitarbeit durch den Betrachter entwickeln die Arbeiten von Ülkü Süngün freilich nur einen Bruchteil ihrer Bedeutung. Sie arbeitet eher konzeptuell; jede ihrer Arbeiten hat einen gedanklichen, hochgradig politischen Ausgangspunkt. So beschreibt sie in einem Fotoroman das Leben eines nach Deutschland immigrierten Georgiers, der sich schließlich eine geradezu märchenhafte Rückreise in die Heimat ausdenkt. Mit Migration haben auch andere Arbeiten zu tun. Ein Häuflein Schuhe aus Bronze in einer Ecke stehen für das Thema Ankunft, in Videos auf mehreren Bildschirmen schildern Einwohner eines Mannheimer Stadtteils ihre Erfahrungen in einer deutschen Stadt. Und auf großformatigen Fotos kombiniert sie aus dem Zusammenhang gerissene Objekte, die sie in türkischen Geschäften fand, und stellt so die Frage nach Fremdheit und Vertrautheit.
Freilich: Einige in den Raum platzierte Monitore, Fotos von türkischen Alltagsobjekten machen nichts von dem aus, was man auch nur im Entferntesten als Bildhauerkunst bezeichnen kann, erst recht nicht ein Fotoroman. Bei Ulla von Brandenburg ließe sich argumentieren, sie mache den Raum zur Plastik, doch auch das wäre eine gewagte Ausweitung einer Definition von skulpturaler Raumkunst. Lediglich Leberers Arbeiten aus Glas, Stahl und Licht zeigen, was Bildhauerei heutzutage zu leisten imstande ist. Bei Ulla von Brandenburg hätte das Thema ganz allgemein „Raumkunst“ oder „Dreidimensional“ lauten müssen.
Die drei Stockwerke für sich genommen präsentieren aufregende Kunst unserer Tage, doch hätte man dann für den diesjährigen Sparda-Kunstpreis ein anderes Thema ansetzen müssen, oder die Jury hätte sich für eine andere Auswahl entscheiden müssen. Wenn jetzt das, was in den drei Stockwerken an faszinierender Kunst präsentiert wird, als „Zeitgenössische Bildhauerei“ angekündigt wird, ist es letztlich größtenteils Etikettenschwindel.
„Kubus. Sparda-Kunstpreis 2022“, Kunstmuseum Stuttgart bis 8.1.2023