Die Kunst des 20. Jahrhunderts ist geprägt von Grenzüberschreitungen. In der Malerei war es vor allem die Befreiung von der Welthaltigkeit der Bilder, also der Gegenständlichkeit. In der Plastik gingen die Bestrebungen dahin, das Statische, auch Statuarische zu überwinden – durch Kinetik, Lichtprojektionen oder das Mittel der Installation. Der bei Biberach lebende Horst Reichle hat in seinem Spätwerk genau diese Grenzüberwindungen in seine Arbeiten auf ganz eigene Weise eingebracht, wie jetzt eine Ausstellung in Ochsenhausen belegt.
Ein einziger langer Tag, 1998
Wenn man sich Horst Reichles Bilder der letzten drei Jahrzehnte ansieht, dann ist das Urteil schnell bei der Hand: Reichle malt abstrakte Kompositionen. Die können aus Farbschichten bestehen, die sich aus breiten Pinselstrichen zusammensetzen, es können tief dunkle Farbsymphonien in Blautönen sein, oder es können ockerfarbene und weiße Farbwolken über die Leinwand huschen. Doch dann fallen dem Betrachter Elemente auf, die man als Augen deuten könnte, man erkennt vage Kopfformen, und genau solche Elemente aus der Realität sind die Keimzelle zu Reichles Gemälden. Ein Beispiel ist das Bild mit dem fast tagebuchartig anmutenden Titel: Ein einziger langer Tag. Entstanden ist das Bild bei einem Symposion auf einem österreichischen Schloss, wo er die Geschichte der ersten Besitzerin erfuhr, und so begann Reichle sein Bild mit Elementen des Bauwerks, des Parks und der historischen Frauenfigur.
Und auch die Farben dieses auf den ersten Blick so abstrakt anmutenden Bildes haben einen realen Hintergrund. Man erkennt das so genannte Schönbrunner oder auch Habsburgergelb, das Weiß, so erinnert sich Reichle, stammt von dem Dunst, der an jenem Tag das Schloss in eine geheimnisvolle Atmosphäre getaucht habe.
Das Bild basiert also auf einem ganz realen Erlebnis, das auch ziemlich realistisch auf die Leinwand kommt. Doch dann fängt Horst Reichle an, das Bild zu bearbeiten. Er konzentriert sich auf das Wesentliche, nimmt andere Teile des Bildes durch Übermalung zurück.
Am Ende dieses Prozesses steht der Eindruck einer abstrakten Komposition. Reichle selbst freilich sieht bei jedem seiner Bilder die Anfangsphase, die Inspiration, das Urerlebnis gewissermaßen, wie etwa bei einem Tanzpaar.
Der Betrachter freilich sieht etwas ganz anderes. Er sieht das Resultat, und das besteht aus der obersten Farbschicht, und die ist weitgehend abstrakt. Horst Reichle überführt den realen Eindruck von der gegenständlichen Welt in reine Malerei. Damit brachte er Ende des 20. Jahrhunderts die beiden einander gegensätzlichen Extreme, die sich in der Kunst des 20. Jahrhunderts herausgeschält hatten, zur Synthese, und zwar jeweils in einem einzigen Bild: das Gegenständliche und die reine Abstraktion. Der Betrachter vor diesen Bildern kann wie bei einem Vexierspiel zwischen beiden Aspekten wechseln, entdeckt immer wieder neue gegenständliche Assoziationen und verliert sich dann wieder im reinen Spiel der Farbmalerei. Damit vereint Reichle eigentlich nicht vereinbare Positionen der Kunstgeschichte.
Eine ähnliche Synthese findet sich in seiner Bildhauerei. So gibt es bei ihm zwar klassische Positionen wie etwa die Stele oder eine aufrecht stehende Figur ohne Arme. Doch die Stele, zwar Inbegriff eleganter aufrechter Haltung, aber in sich starr ruhend, wirkt bei ihm erstaunlich bewegt. Sie scheint in der Mitte geteilt zu sein und ist doch aus einem einzigen Stück Stein gehauen. Diese Bewegtheit findet sich sogar bei seinen Kopfplastiken. Bei jedem Schritt vor diesen Plastiken scheint sich der Gesichtsausdruck zu verändern, das Gesicht wirkt geradezu lebendig. Bei einer anderen Kopfplastik gelang ihm das, indem er dem Gesicht nur ein Auge gab.
Stele, 1999
Scheinen Reichles Bilder im Auge des Betrachters zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit zu changieren, so meint man, seine Skulpturen hätten die Bewegung selbst übernommen, wenn auch nur scheinbar. Eine Stele aus Lindenholz ist eine menschliche Figur, doch scheint sie sich in sich zu drehen. Man hat den Eindruck, als habe Reichle die Figur aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt – doch es ist ein Baumstamm am Stück, grob mit der Säge zurechtgeschnitten.
Immer wieder hat man bei Reichles Skulpturen das Gefühl, sie setzten sich aus lauter Einzelteilen zusammen, etwa bei seinen Schichtungen. Doch immer sind sie aus einem Stück.
Schichtungen II, 2004
Daher konnte er in einem Fall sogar den Eindruck einer horizontalen Schichtung erwecken, die bei einem Gebilde aus lauter Einzelscheiben gar nicht möglich wäre. So aber scheint die Schichtung wie von Zauberhand in der Statik zu bleiben. Und wie bei seinen Bildern das Auge immer in Bewegung bleibt zwischen der gegenständlichen und der abstrakten Bildebene, so fühlt man sich als Betrachter der Skulpturen aufgefordert, um sie herumzugehen. Der Vielschichtigkeit von Horst Reichles Gemälden entspricht bei seinen Skulpturen die Vielseitigkeit.
„Horst Reichle. Bilder, Graphik, Skulpturen“. Städtische Galerie im Fruchtkasten des Klosters Ochsenhausen bis 19.5.2019