Ein Schicksal musste der Herrenberger Altar von Jerg Ratgeb nicht erleiden: Er wurde im Zuge des reformatorischen Bildersturms nicht zerstört, sondern lediglich abgebaut und ausgelagert, bis katholische Truppen wenige Jahre darauf seinen Wiederaufbau herbeiführten. Doch allzu beliebt scheint er nicht gewesen zu sein: Er blieb zwar an seinem Ort, wurde aber Jahrhunderte hindurch zugehängt. Der Grund könnte seine Ästhetik gewesen sein, denn 1891 verkaufte der Stadtrat ihn für fünftausend Mark nach Stuttgart, angeblich wegen der „teilweise unschönen Bilder“. Seit 1924 befindet er sich in der Staatsgalerie Stuttgart, die nun zum 500. Jubiläum seiner Entstehung eine Art „Rückführung“ zustande gebracht hat.
Herrenberger Altar (Schauseite für den Osterfestkreis), 1519
Den Zeitgenossen hat Ratgeb mit seinen Bildern durchaus einiges zugemutet. So sind sie ungemein figurenreich und erzählen die Passionsgeschichte geradezu filmisch, denn auf den einzelnen Bildtafeln sind gleich mehrere zeitlich auseinander liegende Szenen dargestellt, so in einem Bild Abendmahl, Gethsemane und Gefangennahme Christi. Es findet sich sehr viel Volk, auch leidendes Volk, hier drückt sich Ratgebs Engagement für die Bauern im Bauernkrieg aus, was ihm schließlich Folter und Tod durch Vierteilung einbrachte. Über dem Turm, in dem sich die Gegner Christi befinden, gezeichnet als finstere Gestalten, weht die Habsburger Flagge.
Ratgeb malte zudem in einem manieristischen Stil mit verzerrten Perspektiven, gelängten Figuren, was ihn aus heutiger Sicht geradezu modern wirken lässt. Die Farben sind mal fahl, mal grell, und die Figurenzeichnung ist drastisch.
Herrenberger Altar (Mitteltafel, Detail), 1519
So trägt Judas ein hellgelbes Gewand, in seiner Hose ist der Penis sichtlich erigiert, vielleicht bei dem Gedanken an die dreißig Silberlinge, die ihm der Verrat an Christus einbringen soll; Judas ist Spieler, Würfel und Spielkarten fallen aus seiner Tasche, und zugleich giert er nach einem Bissen Brot, den Jesus ihm reicht. Derartige Details werden dem Besucher an einer interaktiven Bildsäule mitgeteilt.
Das sind faszinierende Dramen, die in der Staatsgalerie auf allen Bildtafeln zu bestaunen sind, wie sie in der Kirche früher nie zu sehen waren, denn da war der Altar an Werktagen und normalen Sonntagen geschlossen und zeigte nur den Abschied der Apostel. Nur zu bestimmten Kirchenjahrphasen konnte man die Passionsszenen (Ostern) bzw. die Verlobung Mariens und die Beschneidung Christi (Weihnachten) sehen.
Zum 500. Jubiläum (wobei der Altar 1519 zwar schon einmal aufgestellt wurde, aber noch nicht fertig war) kehrt er nun gewissermaßen an seinen Ursprungsort zurück, wenn auch nur virtuell dank moderner Technik. Auf großen hochformatigen Bildschirmen können alle Bildtafeln im Altarraum gezeigt werden. Der Besucher der Kirche kann die Tafeln durch Handbewegungen öffnen bzw. schließen. Auch die informative Säule findet sich hier – und ein Monitor. Er zeigt den Kirchenbesuchern den echten Altar, den eine Kamera in der Staatsgalerie aufnimmt, während in der Galerie im Raum mit dem Altar ein Monitor das Livegeschehen in der Herrenberger Stiftskirche zeigt. Es haben sich schon Menschen in Herrenberg und Stuttgart zeitlich abgestimmt und über die Liveschaltung zugewinkt. So werden beide Orte virtuell zusammengeführt. Auf diese Weise wird zumindest andeutungsweise ein Problem überwunden, das Kirchenkunst in Museen hat, denn Kirchenkunst ist situativ und funktional gebundene Kunst, sie dient einem sakralen Zweck. Im Museum fehlt dieser Kontext aber, ein Altar wird dort automatisch zum reinen Kunstobjekt, das er ursprünglich nicht war.
Es ist ein kühnes Projekt, zumal die Liveübertragung aus der Stiftskirche ins Museum auch bei Gottesdiensten läuft, aber ein bemerkenswertes Unterfangen, das freilich zeitlich begrenzt ist.
„500 Jahre Herrenberger Altar. Jerg Ratgebs Meisterwerk“, virtuell in die Stiftskirche Herrenberg zurückgeführt bis 24.11.2019