Körperliche Nähe und Distanz sind im Ballett wesentliche Ausdrucksmittel für die Beziehungen zwischen Figuren/Menschen. Nähe ist freilich in Zeiten von Corona nicht möglich. Abstand kann ebenfalls ein Mittel zum Ausdruck zwischenmenschlicher Beziehungen sein, doch wenn Abstand vorgeschrieben ist, dann fällt dies weg. Bleiben nur noch Soli für das Ballett im Augenblick? Ein neues Programm des Stuttgarter Balletts zeigt, was alles möglich, aber auch, was möglicherweise neu ist: Response I, die Stuttgarter Ballettantwort auf Corona.
Zwei Stühle bestimmen die Bühne in Louis Stiens neuem Ballett Petals. Allein auf der Bühne wirken sie wie ein Symbol für eine neue, unfreundliche Welt ohne Menschen, ohne Kontakte. Die Menschen werden kommen, mit den Kontakten ist das so eine Sache. Stiens blieb offenbar nicht unberührt von der neuen Realität des Miteinander, das hier ein Nebeneinander mit großem Abstand ist. Seine Figuren zeigen zwar Interesse am anderen, doch zu einem engen Miteinander kommt es nicht. Bleiben die Stühle: Sie sind bisweilen Partnerersatz: Partner, die man heben kann, auf die man sich auch stützen kann. Freilich nicht ganz freiwillig. Mürrisch zieht die Tänzerin das Möbelstück über den Boden. Nähe zu ihrem Kollegen – stellt sich nur andeutungsweise ein. Stiens choreographiert hier eine Paarbeziehung in ihren Anfängen, mit schnippischer Ablehnung und doch auch dem sehnenden Wunsch nach Nähe. Das ist witzig auf die Bühne gebracht, stets mit psychologischer Tiefe. Ergänzt werden diese zwei Figuren aus dem Alltag durch zwei Schattenwesen, die keiner Stühle bedürfen und die vortanzen, wie Nähe, ja Partnerschaft auch ohne Berührung möglich ist – durch parallele Bewegungen, durch Gleichklang des Tanzes.
Das hat es auf der Ballettbühne zwar auch schon vorher gegeben, doch nun erhält es eine andere Aussagekraft. Stiens entwickelt mit diesen althergebrachten Bewegungsmustern eine Art neues Bewegungsrepertoire. Parallelität wird nun nicht in erster Linie ästhetisches Bewegungsmuster, sondern Ausweis gleichen Denkens und Fühlens, mehr denn je. Bewegungen, das zeigt seine Arbeit, können unter Coronabedingungen neue Funktionen gewinnen.
Hyo-Jung Kang © Stuttgarter Ballett
Das zeigt auch die neue Arbeit von Fabio Adorisio. Empty Hands nennt er sein Stück bezeichnend, sie bleiben leer, weil sie nicht die Hände anderer Tänzer finden (dürfen). Adorisio schickt fünf grau gekleidete Tänzer auf die Bühne, Tänzer, deren Bewegungen sich immer wieder ganz in ihren eigenen Körper hineinzuziehen scheinen. Ein Aus-sich-Heraustreten, so hat man den Eindruck, ist in dieser neuen Welt nicht möglich. Nur gelegentlich löst sich einer aus der Gruppe und wagt Exkurse mit Armen und Beinen, um aber doch wieder in seine Ichbezogenheit zurückzusinken, ein faszinierendes Psychogramm einer Welt im Ausnahmezustand, in der nichts mehr ist, wie es war.
Aber beide Arbeiten zeigen auch, dass die intensive Auseinandersetzung mit der neuen Situation sich nicht lähmend auf kreative Geister wie Choreographen auswirkte, sondern befruchtend. Die neuen Arbeiten von Stiens und Adorisio zählen zu den besten, die man von ihnen in den letzten Jahren in Stuttgart gesehen hat. Das gilt auch für Roman Novitzkys schon vom Titel her sehr krisenaktuell wirkendes Stück Everybody Needs Some/Body, der deutlich macht, wie Körperkontakt entscheidend ist für den Menschen. Was Stiens die zwei Stühle auf der Bühne sind, sind für Nowitzky Kleiderpuppen. Geradezu liebevoll werden sie von den Tänzerinnen und Tänzern umkost, gehoben wie Tanzpartner, als Zuflucht umarmt.
Freilich sind sie lebloser Ersatz für menschlichen Kontakt. Was dieser Kontakt bedeuten kann, zeigt ein Paar, das auch jetzt keine Berührungsängste haben muss, weil beide Tänzer auch privat ein Paar sind. Aber Novitzky macht es sich nicht so einfach, hier einen glorreichen Gegenpol zum körperlosen Miteinander zu zeigen.
Diese beiden Tänzer gehen aufeinander zu, als hätten sie coronabedingte Distanz schon jahrelang üben müssen und wüssten nun nicht mehr, was Kontakt bedeuten kann. Erst als Paula Rezende vorsichtig behutsam ihren David Moore berührt, löst sich dessen Verspannung – ein erregender Moment.
Freilich zeigt der neue Abend auch, welche Verluste Corona für die Tanzbühne mit sich bringt. Das wird jedem klar, der einmal Maurice Béjarts „Boléro“ zum gleichnamigen Klassiker von Maurice Ravel erleben durfte. Drei Dutzend Tänzer haben sich sukzessive zum Schlusstableau um einen roten Tisch versammelt, und über diese Corona von Tänzern erhebt sich strahlend der Solist, ein überwältigendes Bild, bei dem der Solist wie ein Gott aus der Menge gen Himmel zu schießen scheint. Solche engen Gruppierungen sind aber durch die Abstandsregeln derzeit unmöglich, und so umrahmen gerade einmal acht Tänzer den Tisch. Kein Zweifel: eine Einbuße an Dramatik – ist aber eine Petitesse angesichts des ganzen Stücks, das letztlich ein Solo ist, von Friedemann Vogel wie immer bravourös verkörpert.
Was es bedeutete, wenn das Ballett der Gegenwart sich auf Soli beschränken müsste, zeigt der Sterbende Schwan von Michel Fokine. Ein grandioses Stück, gewiss, wunderbar verkörpert von Anna Osadcenko, aber eben doch nur ein reduzierter Ausdruck.
Dass Solo auch spannungsreiche Gruppenchoreographie bedeuten kann, hat Hans van Manen 1997 demonstriert, Solo heißt das Stück, doch hintersinnig wie so oft konterkariert van Manen die Vorstellungen von einer solchen Eintänzerform. Seine Arbeit ist ein Solo für drei Tänzer, und bleibt doch ein Solo. Immer wieder lösen sie sich auf der Bühne ab, rasen elegant und verspielt über die Bühne, scheinen das, was der Vorgänger gezeigt hatte, zu wiederholen, und sind doch ganz eigene Tanzwesen.
Wenn dieser Abend als Indiz dafür genommen werden kann, was Ballett in Coronazeiten bieten kann, dann muss einem vor der neuen Saison zumindest in dieser Kunstsparte nicht bang sein.