Sie zählten zu den großen Attraktionen auf Jahrmärkten und in Großstädten: Wachsfigurenkabinette – Panoptiken, in denen Berühmtheiten der Geschichte, aber auch anatomische Absonderlichkeiten und Gruselgestalten aller Art zur Schau gestellt wurden, lange vor Erfindung des Kinos, geschweige denn der 3-D-Filmtechnik. So hatte das berühmteste von ihnen, Madame Tussauds, bezeichnenderweise seinen Ursprung nicht in der Präsentation berühmter Persönlichkeiten aus Vergangenheit und Gegenwart; Marie Tussaud hatte die Köpfe berühmter Opfer der Guillotine während der Französischen Revolution modelliert. Schon hier mischten sich kunstfertige Nachahmung und Nervenkitzel. Von Letzterem ist heute in den Vergnügungseinrichtungen der „Tussauds Group“ kaum mehr etwas zu ahnen – ganz im Unterschied zu Wachsfigurensammlungen an der Universität Tübingen, die jetzt in einer Ausstellung öffentlich zugänglich sind.
Archiv des Autors: Dr. Rainer Zerbst
Zwischen Genie und Wahnsinn: Marco Goeckes „Nijinski“ als Hommage an den Tanz
Er ist bis heute eine Legende des Tanzes: Waslaw Nijinski: Die Zeitgenossen rühmten seine Grazie, bestaunten seine Sprungtechnik, bei der er den Sprung in der Luft anzuhalten schien, sie berauschten und empörten sich an der sexuellen Ausdruckskraft seiner Bewegungen; die Nachwelt feiert ihn als Erneuerer der Tanzkunst. Zusammen mit dem Ballettimpresario Sergej Diaghilew führte er das klassische Ballett über in den Tanz der Moderne. Und er verkörpert das tragische Schicksal eines Frühvollendeten mit dem Absturz in den Wahnsinn; die Hälfte seines Lebens, dreißig Jahre, verbrachte er in psychiatrischen Kliniken. John Neumeyer hat im Rückblick sein Leben nacherzählt, Maurice Bejart hat ihn als Clown der Götter auf die Bühne gebracht, jetzt hat Marco Goecke für die Gauthier Dance Company im Stuttgarter Theaterhaus eine Hommage für das Tanzgenie kreiert.
Garazi Perez Oloriz, Foto: Regina Brocke
Gerhard W. Feuchters Papierkunst
Wenn heute ein Student an der Akademie eine Zeichen- oder Malklasse besucht, dann steht ihm als Ausgangsmaterial Zeichenpapier oder Leinwand zur Verfügung. In früheren Jahrhunderten hat man auch auf Holzplatten gemalt. Das alles ist nicht mehr als der Grund, auf dem das spätere Kunstwerk entstehen soll. Der Tübinger Künstler Gerhard Feuchter geht in seinen Arbeiten einen Schritt in diesem Produktionsprozess zurück. Er bemalt nicht fertiges Papier – er stellt sein Papier erst einmal her, nach Jahrhunderte alten Verfahren – und weil das Papier, das er dabei erhält, nichts mit dem zu tun hat, was man im Handel erwerben kann, sehen auch seine Arbeiten, die er aus diesen Papieren herstellt, anders aus als herkömmliche Zeichnungen.
Eine Frau zwischen Mond und Monster – Salome als Ballett in Stuttgart
In der Bibel hat sie keinen Namen: die Tochter der Herodias, die im Zusammenhang mit Johannes dem Täufer Erwähnung findet. Im 19. Jahrhundert avancierte sie zum Inbegriff von lasziver Erotik und Grausamkeit, Oscar Wilde machte sie zur Titelfigur eines Meisterwerks des Fin de siècle mit einer nahezu orgiastisch farbenreichen Sprache, und Richard Strauss setzte Wildes Drama kongenial in rauschhafte Musik um. Nun hat Demis Volpi, der Hauschoreograph am Stuttgarter Ballett, den Stoff für die Ballettbühne bearbeitet, und auch er hielt sich wie Richard Strauss eng an Wildes Text.
Zwischen Sitcom und Comedianwelt – Sebastian Baumgarten inszeniert Gogols Tote Seelen
Löcher im System kann man stopfen, man kann sie aber auch ausnutzen. Über Letzteres schrieb Nikolai Gogol einen ganzen Roman: Weil die russische Bürokratie zu Zarenzeiten nicht die schnellste war, blieben Leibeigene auch nach ihrem Ableben noch lange auf der Steuerliste, zum Unwillen der Gutsbesitzer – bis Schlauberger Tschitschikow auf die Idee kommt, sie ihnen abzukaufen, die Besitzer also von der Steuer zu entlasten und seinerseits die „toten Seelen“ auf dem Markt als lebendige Arbeitskräfte gewinnträchtig an den Mann zu bringen. Ein Schelm, wer dabei an die Bankenkrise mit ihren Investmentpaketen und Schrottimmobilien denkt.
Hanna Plaß, Paul Grill, Wolfgang Michalek, Michael Stiller, Svenja Liesau, Horst Kotterba, Christian Czeremnych. Foto: Bettina Stöß
Zerreißprobe für die Kunst – Collage und Décollage in der Galerie Stihl
Es war eine Revolte, die sich gegen alles richtete, was das bürgerliche Leben ausmachte, nicht zuletzt auch die Werte, die diesem Leben zugrunde lagen. Der Zufall sollte regieren, der Alltag sollte das Material liefern – so wollten es jene Künstler, die vor hundert Jahren nach neuen Wegen suchten und sich unter dem Namen Dada zusammenfanden, wobei es charakteristisch für diese Kunstform ist, dass bis heute der Begriff die verschiedensten Erklärungen gefunden hat, ohne dass eine von ihnen besonders schlüssig wäre. Inbegriff dieser Kunstrichtung war die Collage in jederlei Hinsicht: Sei es, dass Silben und :Klänge zu oftmals sinnlos wirkenden Gebilden verknüpft wurden (wovon in unseren Tagen noch ein Helge Schneider profitiert), sei es, dass aus Fetzen des Alltagslebens neue Bilder entstanden – wie derzeit vor der Waiblinger Galerie Stihl. Dort steht seit Neuestem eine große Wand, auf die jeder Papierfetzen aufkleben kann – eine Art kollektiver Collage soll entstehen.
Fragezeichen überwiegen: Alice im Wunderland bei der Jungen Oper Stuttgart
Wohl kaum ein Werk der Weltliteratur enthält so viele Fragezeichen wie Lewis Carrolls Alice im Wunderland. Da wird Alice gefragt, was sie denn im Reich der Herzogin zu suchen habe, und Alice fragt sich unablässig, wer sie eigentlich sei und warum sie mal zur Riesin anwachse, mal zur Liliputanerin schrumpfe. Ganze literaturwissenschaftliche Bibliotheken haben über Sinn und Unsinn der hier geschilderten Welt räsoniert, in der die Logik auf den Kopf gestellt wird und so märchenhafte Wesen wie der Schildkrötensupperich auftauchen. Kein Wunder, dass sich das Kino, vor allem der Trickfilm, das Medium der zauberhaften Metamorphose schlechthin, dieses Stoffs angenommen hat. Kein Geringerer als Tankred Dorst hat neben vielen anderen eine Version für das Sprechtheater erstellt, nur die Opernbühne musste warten, bis 2007 die Koreanerin Unsuk Chin eine Oper daraus machte, ihr folgte vor zwei Jahren Johannes Harneit, dessen Version nun Barbara Tacchini für die Junge Oper an der Oper Stuttgart inszeniert hat.
Victoria Kunze (Alice), Philipp Nicklaus (Weißes Kaninchen) Foto: Christoph Kalscheuer
Gut oder schlecht – der öffentliche Raum als künstlerischer Denkanstoß
Hundert Jahre lang war er ein privater Garten in Esslingen, ein Landschaftspark rund um die Villa der Industriellenfamilie Merkel, seit rund vierzig Jahren ist er der Öffentlichkeit zugänglich, inklusive der in das Städtische Museum der Stadt umgewandelten Villa – ein sogenannter „öffentlicher Raum“ also. In den nächsten Monaten kann man hier ungewöhnlichen Bauwerken begegnen, Teile einer Ausstellung in der in der Villa Merkel eingerichteten Städtischen Galerie. einem schwimmenden Biotop etwa. Aus billigsten Materialien ist mittels Holzlatten, Plastikplanen und einer Solarzelle ein Gewächshaus entstanden, in dem die Pflanzen aus dem Untergrund, auf dem das Haus schwimmt, mit Wasser versorgt werden, das mittels Sonnenenergie nicht nur nach oben gepumpt, sondern auch noch aufbereitet, d.h. von Schadstoffen befreit wird. Kunst also im öffentlichen Raum, sinnigerweise bereits vor den Toren des Museums im Park, einem öffentlichen Raum als, schließlich geht es um die Frage, wie gut solche Räume sind oder sein könnten: „Good space“.
Von Leben durchpulst – „Tristan und Isolde“ an der Oper Stuttgart
„Tristan und Isolde“ von Richard Wagner ist eine Herausforderung – an die Zuschauer, schließlich dauert eine Aufführung in der Regel fünf Stunden, an die Sänger der Titelrollen, die ein halbstündiges Liebesduett gestalten müssen, an den Dirigenten, der große Leidenschaften entfesseln muss, Wagner hielt diese Musik denn auch für eine Gefahr für die Zuhörer wegen ihrer emotionalen Intensität, und an den Regisseur, denn an Handlung geschieht auf der Bühne fast nichts, es geht im Wesentlichen um innere Zustände: Isolde und Tristan verlieben sich durch einen Liebestrank unsterblich ineinander, obwohl Isolde König Marke zur Frau gegeben wurde, wenn auch gegen ihren Willen. Am Ende steht der Tod. In Stuttgart inszeniert der Intendant der Oper, Jossi Wieler, wie stets zusammen mit seinem Dramaturgen Sergio Morabito.
Erin Caves (Tristan), Shigeo Ishino (Kurwenal. Foto: A.T.Schaefer
Von der Linie in den Raum: Katharina Hinsbergs Farbfelder
Eine Linie auf einem Blatt Papier ist die Verbindung zwischen zwei Punkten. Katharina Hinsberg war mit dieser Definition offenbar nicht ganz zufrieden; vor zwanzig Jahren begann die Künstlerin mit ihrer eigenen Erkundung dieses Phänomens, zog auf einem Blatt eine Linie mit dem Lineal, legte ein zweites Blatt darüber, zeichnete die Linie freihändig nach usw., bis Hunderte von Blättern übereinander lagen und die Endpunkte auf dem Papierblock eine Zackenlinie bildeten und so deutlich machten, wie unzuverlässig die frei zeichnende Hand ist. Wer ihre neueste Arbeit im Kunstmuseum Ravensburg betrachtet, wird sich freilich die Frage stellen: Wo ist hier die Linie geblieben?