Konträrer hätten die Griechen sich die Götter nicht vorstellen können. Da ist auf der einen Seite Apoll – Sinnbild für das Schöne, Lichte, die Reinheit und die Künste, vor allem den Gesang und die Dichtung. Und da ist Dionysos, der Gott des Weins und daher wohl auch der Freude, aber auch der Triebhaftigkeit, des Rausches und der Fruchtbarkeit, und auch er ein Quell der Künste; auf den Dionysien entwickelte sich die griechische Tragödie. Dionysos steht für die Extreme, die Unbändigkeit, die Hemmungslosigkeit und damit für die Ekstase. Was dieses Phänomen, das sowohl körperliche als auch emotionale Komponenten hat, verursacht, erkundet eine Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart, schließlich ist Kunst in der Lage, unser Bewusstsein zu verändern und an Grenzen zu treiben, die dem Alltag und der Normalität fremd sind.
So geht es denn auch im ersten Ausstellungsraum recht freizügig zu. Lovis Corinth malte heimkehrende Bacchanten. Die Kleider haben sie längst abgelegt, der Alkohol hat ihre Bewegungen enthemmt. Begierde spricht aus ihren Gesten – und Corinth hat damit letztlich nichts anderes dargestellt als antike Vasenmaler auch. Alkohol und Sexualität bilden eine Einheit – begleitet vom Verlust jeglicher Kontrolle. Die Menschen stehen neben sich, sind ekstatisch in des Wortes eigentlicher Bedeutung. Ob sich das auch in den eher spielerisch-verspielten Zeichnungen Paul Klees ablesen lässt, mag man bezweifeln, denn Ekstase ist weit extremer als reines Spiel. Der Erotomane Picasso war da in seinem Element.
Verlust über körperliche Kontrolle findet sich aber auch in einem Bereich, in dem man es nicht vermuten würde: im Sport. Müde, abgekämpft liegen da Ringer am Boden, doch in ihren Gesichtern spiegelt sich auch ein geheimes Glücksgefühl. Das ist nicht weit von der Trunkenen Kentaurin entfernt, die Franz von Stuck 1892 malte.
Untrennbar mit den Festen bzw. Orgien um Dionysos und seine Bacchantinnen verbunden ist der Tanz – und zwar nicht der choreographierte klassische Balletttanz, denn der setzt absolute Kontrolle über Körper und Geist voraus, sondern der Ausdruckstanz, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Tänzerinnen wie Isadora Duncan, Anita Berber oder Mary Wigman zur Blüte entwickelt wurde und bei dem man zumindest den Eindruck hat, die Tänzerinnen verlören sich zunehmend in Ekstase. Vor allem die Zeichnungen, auf denen Antoine Bourdelle die Kunst der Duncan mit elegantem Stift festgehalten hat, vermitteln eine Ahnung von der Faszination ihrer Bewegungen.
Doch bedurfte es nicht der Tanzbühne, um Körper in Ekstase zu versetzen. Auch der Tanz der Morisken, der zum Christentum zwangskonvertierten Mauren im Spanien des 15. Jahrhunderts, zeichnete sich durch Körperverzerrungen aus, die an absolute Hemmungslosigkeit denken lassen und die sich – die Ausstellung ermöglicht faszinierende Vergleiche und Verbindungen – auch auf antiken Vasenmalereien finden. Wenn dann daneben in einem Video junge Menschen beim gemeinschaftlichen Hulatanz zu sehen sind, ist das eine weitere Parallele, die einem erst bei diesem Ausstellungsparcours bewusst wird.
Die Moriskentänze hatten rituellen Charakter – ebenso wie die religiöse Verzückung in der Welt der Christen. Für Darstellungen solcher Zustände bei berühmten Heiligen bildete sich ironischerweise eine feste Ikonographie heraus: geschlossene Augen, ein in den Nacken geneigter Kopf – ironischerweise deshalb, weil ja Ekstase das Gegenteil eines festen Formenkanons ist.
Und wie lange sich derlei Bildelemente gehalten haben, zeigen Fotos von Jeremy Shaw von Sportlern und Musikern unserer Tage.
Der religiös-rituelle Aspekt setzt sich fort im Schamanentum, das sich in manchen Teilen der Welt bis heute erhalten hat, und in der Candomblé-Religion in Südamerika, bei deren Riten die Anhänger davon ausgehen, dass Heilige von den Menschen Besitz ergreifen können.
Ekstase kommt also nicht von allein über den Menschen, sie benötigt Auslöser: Das können religiöser Eifer und spirituelle Versenkung sein oder aber Stoffe wie Alkohol oder Drogen. Zeichnungen, die Henri Michaux nach dem Genuss von Meskalin anfertigte – eine art ecriture automatique – lassen ein wenig von den Rauschvorstellungen ahnen, die man nach Drogenkonsum erleben kann. Fotos aus der Drogenszene dagegen zeichnen die negative Seite dieser Ekstase.
Und man fragt sich, was denn eigentlich zur Entstehung dieses Außersichgelangens führt. In zwei Räumen kann man in der Ausstellung selbst erproben, wie es darum steht, denn im obersten Stockwerk wurde ein Raum mit psychedelisch anmutendem Licht und rhythmischen Klängen ausgestattet, in dem man sich in Stimmung bringen lassen kann, so man das will oder vermag, oder man kann hautnah erleben, was rasch blinkendes grelles Licht an Halluzinationen oder Angstgefühlen auslösen kann. Doch meist ist es eher ein Zusammenwirken mehrerer Komponenten – und dazu gehört nicht zuletzt auch das Erlebnis der Masse, wie Videos aus der Jugend- und Popszene zeigen. Denn es ist fraglich, ob man allein durch hektische Tanzbewegungen in Ekstase geraten kann.
Rineke Dijkstra hat Discobesucher gebeten, in einem hellen Raum ohne Lichteffekte vor der Videokamera dieselben Tänze wie in der Disco aufzuführen, und siehe da, jede Ekstase ist aus diesen Tanzvorführungen gewichen.
„Ekstase in Kunst, Musik und Tanz“. Kunstmuseum Stuttgart bis 24.2.2019. Katalog 253 Seiten, 39 Euro