Es gab Kunstepochen, da galt die Übernahme eines musikalischen Satzes oder ein langes Zitat eines geschätzten Komponisten als Ausweis der Hochachtung vor dem Kollegen, zugleich reihte man seine eigene Kunst ein in die Reihe der hehren großen Werke. Spätestens seit dem Geniekult der Romantik und erst recht im 20. Jahrhundert gilt derlei eher als Beleg für eine gewisse Rückständigkeit. Dabei braucht das Neue das Alte wesensmäßig, sei es, um sich von ihm abzusetzen, sei es, um Entwicklungen deutlich zu machen. Selbst die Revolution – als extreme Umkehr oder Negation des Alten – kommt ohne die Tradition nicht aus. Dass auch ein unverhohlener Rückgriff auf Tradition Neues nicht ausschließen muss, zeigt ein Abend des Stuttgarter Balletts.
Ensemble © Stuttgarter Ballett
Es ist geradezu ein Lehrstück in Sachen klassischer Ballettkunst, was Marius Petipa 1877 in dem Traumakt seiner Bayadere auf die Bühne brachte. Minutenlanger Spitzentanz, virtuose Schrittfolgen, zugleich perfekte Harmonie des weiblichen Corps de ballet. Dazu zumindest einen Anflug einer Handlung, wenn der Held im Opiumrausch sich seine verstorbene Geliebte gleich in zwei dutzendfacher Vervielfältigung träumt und im Solo doch noch mit ihr eine kurze Vereinigung erleben darf. Dazu führt Petipa mustergültig die Hierarchie des klassischen Balletts vor, indem er erst vierundzwanzig Tänzerinnen mit immer gleichen Bewegungen die Bühne betreten und in Serpentinen füllen lässt, diese sodann durch drei Solotänzerinnen ergänzt, die in kurzen Szenen ihre Virtuosität unter Beweis stellen dürfen, bis das erste Solistenpaar die Bühne beherrschen darf. Dem Stuttgarter Ballett gelang da perfekte klassische Ballettkunst, ein Traum in weißer Tanzharmonie.
Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn dieser Akt den Abend eingeleitet hätte, denn dann hätte das Publikum das ganze Repertoire an Schritten und Ausdrucksformen klassischen Tanzes in gedrängter Form vorgeführt bekommen – ein Repertoire, das von den beiden Vertretern des 20. Jahrhunderts vollendet aufgegriffen und dabei doch zugleich raffiniert variiert wurde. Siebzig Jahre nach Petipas Traumballett schwelgte auch George Balanchine in Tutus und Weiß, und er ließ seine Sinfonie in C auch noch unter einem Kronleuchter tanzen. Doch ist das ein – vielleicht sogar ironisch gemeintes – Aperçu, ein kleines Ausrufungszeichen: Achtung klassizistisch. Denn pure Klassik war das nicht, was er auf die Bühne brachte.
Ensemble © Stuttgarter Ballett
Balanchine gelang ein Balanceakt zwischen dem klassischen Bewegungsrepertoire und ganz neuen ästhetischen Ausdrucksformen. Das zeigt sich beispielsweise an der Vervielfachung. Hatte das klassische Ballett in der Regel ein Solistenpaar – die Protagonisten der Handlung -, so bringt Balanchine, der auf Handlung gänzlich verzichtet, gleich vier auf die Bühne. Zwar findet sich auch hier das Corps in der Funktion, dem Solopaar einen Rahmen zu geben, doch wenn bei Balanchine die Tänzer durch die Luft schweben, dann nicht solistisch wie bei Petipa, sondern gleich mehrfach. Balanchine bedient sich des klassischen Repertoires, allerdings erst, nachdem er es gewissermaßen seziert hat. Dann konnte er damit spielen wie auf einer Klaviatur und eine berückende neue Ästhetik kreieren. Dabei hätte er sich keine bessere Musik als die gleichnamige Sinfonie von Georges Bizet wählen können (der ironischerweise dasselbe Schicksal wie Balanchines Choreographie zuteil geworden war, denn sie war jahrzehntelang verschollen). Auch Bizet spielt mit alten Formen wie der Fuge, auch seine Sinfonie ist nicht im Stil seiner Zeit gehalten – also romantisch, sondern von erstaunlicher klassischer Klarheit, ohne eine klassische Sinfonie zu sein. So führte Balanchine mustergültig vor, wie aus der Tradition unter Beibehaltung vieler traditioneller Elemente Neues entstehen kann. Aus dem Plüsch des Alten entstand eine Clarté des Neuen.
Knapp zwanzig Jahre nach Balanchines Großtat für das neue klassizistische Ballett griff John Cranko auf die große Tradition zurück. Zu Mozarts Konzert für Flöte und Harfe ließ auch er die Gruppe als Rahmen auftreten, doch wertete er die Tänzer dieser Gruppe, die bei Petipa nur im ästhetischen Bewegungsunisono agieren durften, auf, widmete ihnen solistische Passagen. Zudem spielte er mit dem klassischen Repertoire, schuf Stimmung und Ausdruck, wobei ihm im zweiten Satz bei bläulich abgedunkeltem Licht eine fast philosophische Serenade gelang, eine Befragung nach dem Wesen des Lebens fast, ehe dann der virtuose dritte Satz folgte, in dem die Solisten wie in Mozarts Konzert die Kadenz ausfüllen durften.
Ami Morita, David Moore, Ensemble © Stuttgarter Ballett
Bei ihm findet auch kecker Witz Eingang in die Klassizität der Bewegung. Vor allem aber kehrte er das Verhältnis von Musik und Choreographie um, denn Ludwig Minkus ging mit seiner Komposition stets auf die konkreten Wünsche der Choreographen ein, modellierte geradezu mit Tönen die Bewegungen, während Cranko perfekt Mozarts vorgegebene Musik in Bewegung umsetzte, ohne dabei in den Fehler zu verfallen, eine Entsprechung eins zu eins auf die Bühne zu bringen.
Tamas Detrich gelang damit als Auftakt seiner Intendanz ein fulminanter Abend, der die Qualitäten der gesamten Truppe unter Beweis stellte und zugleich eine Verneigung vor den vielen grandiosen Solisten war, denn die Tänzer des ersten Solopaares in diesem Konzert – Alicia Amatriain und Friedemann Vogel – traf man wieder bei Balanchine, hier aber mit anderen Partner, ein Kunstgriff, der sich bei anderen Solisten wiederholte. So griff auch Detrich in der Besetzung klassische Vorgaben auf und variierte sie. Dennoch bleibt ein Hauch von Skepsis, wenn man von diesem Abend auf das Programm der ersten Spielzeit des neuen Intendanten wirft. Da ist zwar von „Aufbruch“ die Rede, doch im Zusammenhang mit dem Bauhaus, dessen Modernität inzwischen auch hundert Jahre alt ist. Dann kommt die tragische Geschichte um die Liebe von Kronprinz Rudolf auf die Bühne in einem Handlungsballett von 1978. Mit Jiŕi Kylián holt man einen Großen des modernen Balletts ins Repertoire, aber mit einem zwanzig Jahre alten Stück. So bleibt nur ein Abend mit drei Uraufführungen der Moderne und hoffentlich Zukunft des Balletts vorbehalten. Die nächsten Spielzeiten müssen weisen, ob diese Mischung bleibt und für die Zukunft des Stuttgarter Balletts ausreicht.