Iwan Turgenjew sah in ihr eine der größten Erzählerinnen des Jahrhunderts. In ihrem Salon fanden sich literarische Größen wie Charles Dickens oder Henry James ein, und selbst Mitglieder des Königshauses fühlten sich geehrt, dort vorgelassen zu werden. George Eliot hatte in den Intellektuellenkreisen einen fast göttinnenähnlichen Nimbus, und auch heute werden ihre Romane hoch geschätzt. Für einen Julian Barnes ist ihr Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts erschienenes Hauptwerk Middlemarch der „wahrscheinlich bedeutendste englische Roman überhaupt“, wie einer jüngst bei dtv neu erschienenen Übersetzung des Werks zu entnehmen ist. Dennoch ist sie heute zumal in Deutschland eher ein Geheimtipp. Am 19.November 2019 jährt sich ihr Geburtstag zum 200. mal.
Dass sie zu solchen literarischen Ehren aufsteigen sollte, war freilich nicht zu erwarten. Zugegeben, sie stammte nicht gerade aus ärmlichen Verhältnissen, ihr Vater war ein angesehener Gutsverwalter, sie erhielt Privatunterricht und hatte nicht zuletzt durch die Nähe zum Gutshaus Zugang zu Büchern. Zudem war sie fleißig, studierte Sprachen, las Werke, die für eine Jugendliche eigentlich zu anspruchsvoll waren. Nach dem Tod der Mutter zog sie mit ihrem Vater aus dem elterlichen Haus aus, das ihr nunmehr verheirateter Bruder übernahm, und gelangte so in die Nachbarschaft von Charles Bray, einem Industriellen und Intellektuellen mit progressiven Ansichten. Dort traf sie bereits früh die großen Geister ihrer Zeit.
Dennoch: Was aus ihr hätte werden können, hat sie in ihrem letzten Roman Daniel Deronda angedeutet. Da verarmt die Familie der Heldin, die sich vor dem Schicksal sieht, als Gouvernante ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen, ein hartes Los, das viele junge Frauen traf, die keinen Mann fanden, und Mary Anne Evans, so der eigentliche Name der später als George Eliot berühmt gewordenen Autorin, ist alles andere als attraktiv im Unterschied zu dieser Heldin. Eine andere Zukunftsmöglichkeit spielte sie in dem stark autobiographisch gefärbten Roman Die Mühle am Floss durch. Die Heldin ist gleichfalls Tochter eines Gutsverwalters, der allerdings durch eigene Schuld verarmt. Maggie Tulliver ist wie die junge Mary Anne aufgeweckt, intelligent, bildungsbeflissen. Zu einer eigenen Karriere bringt sie es nicht, und weil sie einen jungen Mann liebt, der ihrem Bruder nicht genehm ist, bricht dieser die Verbindung mit ihr ab. Am Ende sterben beide Geschwister – ein Schicksal der Heldin, das sehr viel realistischer ist als die Erfolgsgeschichte der Autorin.
Noch eines verarbeitet George Eliot in diesem Buch, denn wie Maggie geht sie eine Verbindung mit einem Mann ein, die ihr Bruder ablehnt, der daraufhin alle Brücken zu ihr abreißt. In ihrem privaten Fall ist die Situation allerdings krasser: Ihr langjähriger Lebensgefährte George Henry Lewes ist verheiratet, die Londoner Gesellschaft ächtet die Liaison lange Zeit. Beide arbeiten als Kulturpublizisten, Mary Anne, die sich zu dieser Zeit Marian schreibt, bringt es gar bis zur Herausgeberschaft der renommierten Westminster Review, bis sie unter dem Pseudonym George Eliot ihre großen Erfolge schrieb – Erfolge, die sich trotz der Zumutungen einstellen, die ihre Leser verkraften müssen. Ihr erster Roman handelt von einer unehelichen Schwangerschaft und einer Kindsmörderin; Königin Victoria war darob nicht „amused“, aber das Publikum fasziniert, und so mutete die Autorin, die schon bald von ihren Einnahmen gut leben kann, ihrem Publikum weitere Problemromane zu. Sie schrieb über einen jungen Politiker mit „radikalen“ Ansichten, über eine junge Frau im Florenz der Renaissance, die eine Ehe mit einem ihrer sich als unwürdig erweisenden Mann durchsetzt, ihn verlässt und am Ende in der Zuwendung zu Pestkranken ihre Erfüllung findet. In ihrem letzten Roman griff sie gar die damals in London heiß diskutierten Forderungen eines Theodor Herzl nach einem unabhängigen jüdischen Staat in Palästina auf.
Ihre Romane zeichnen sich durch grandiose Dialoge aus sowie durch eine Ironie, die alle Figuren, die „Helden“ eingeschlossen, trifft, eine wohlmeinende Ironie, gleichwohl eine erzählerische Einstellung, die verhindert, dass die Romane vorschnell in allzu gefällige Lösungen münden. Schon der jungen Mary Anne sagte man nach, sie neige dazu, die Dinge von allen Seiten zu betrachten und sich durch keinerlei Vorurteile in ihrer Meinung einschränken zu lassen. Genau das prägt ihre Romane.
Vor allem erweiterte sie das Spektrum dessen, was der englische Roman bis dahin aufzuweisen hatte. Zwar gibt es auch bei ihr einzelne Helden, doch sind sie stets eingebunden in eine Gemeinschaft, die sie prägt, gegen die sie sich zu behaupten haben, an denen sie auch scheitern. Eliots Romane sind Gesellschaftsromane im umfassenden Sinn. Das gilt vor allem für das Meisterwerk, das schon im Titel nicht mehr wie die früheren Romane den Namen einer Figur trägt, sondern ein Gemeinwesen bezeichnet: Middlemarch, eine fiktive Kleinstadt in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die zentrale Figur Dorothea Brooke ist zwar eine Art Kristallisationspunkt, aber sie ist lediglich ein etwas herausgehobener Teil eines Geflechts aus Beziehungen, die ein solches Stadtleben ausmachen. Mit ihr steht wieder eine Frau im Zentrum, die versucht, die Beschränkungen, die die englische Gesellschaft der Frau auferlegte, zu überwinden – nicht aus ihnen auszubrechen, auch nicht, sie revolutionär in Frage zu stellen, dennoch aber im Rahmen der gesellschaftlichen Bedingungen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wie es die Autorin selbst geschafft hat. 2015 hat eine Befragung unter bedeutenden Literaturkritikern das Buch zum bedeutendsten britischen Roman gekürt, Julian Barnes steht mit seinem Urteil also nicht allein. Dennoch genießt diese Autorin nicht die Popularität, die ihr aufgrund solcher Wertschätzung der Fachkritik zustehen müsste, zumal in Deutschland nicht, wo sie selbst unter literarisch interessierten Lesern eher unbekannt ist. Es gibt zwar eine mehrteilige Fernsehverfilmung von Middlemarch, aber anders als bei Jane Austen ist eben Hollywood noch nicht auf sie aufmerksam geworden. In diesem Blog wird daher in den nächsten Wochen in mehreren Fortsetzungen ein umfassenderes Porträt dieser Frau erscheinen, die nicht nur erfolgreiche Romane schrieb, deren Leben sich vielmehr selbst wie ein Roman liest, nicht zuletzt durch ihre Lebensgemeinschaft mit dem verheirateten George Henry Lewes, einer Verbindung zwischen, wie man sich einig war, Londons hässlichster Frau mit Londons hässlichstem Mann.