Als Demis Volpi am Stuttgarter Ballett seine ersten großen Handlungsballette kreierte, bestand er auf der Mitarbeit einer Dramaturgin, in diesem Fall Vivien Arnold, die auch Ende 2022 in Stuttgart für Edward Clugs Nussknacker-Version diese Funktion ausübte. Volpi wählte sich als Direktor am Ballett am Rhein gleich wieder einen Dramaturgen. Was freilich an Schauspiel und Oper längst unverzichtbar ist, hat sich auf der Ballettbühne noch nicht so richtig durchgesetzt. Dabei wären Dramaturgen ein Gewinn für die Choreographen, bilden sie doch ein mögliches Korrektiv für die reine Kreativität. Das neue Programm am Stuttgarter Ballett scheint das zu belegen.
Alessandro Giaquinto, Ascaresa. Tänzer: Anouk van der Weijde, Timoor Afshar © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
In Alessandro Giaquintos neuem Ballett Ascaresa gibt es nach etwa fünfundzwanzig Minuten eine Stelle, an der die Choreographie hätte enden können und das Publikum vermutlich beklommen auf den Plätzen sitzengeblieben wäre, so wie die Tänzerfiguren auf der Bühne entsetzt erstarrt sind. Als Bühnenbild hat Chiara Bugatti neben drei kahlen Säulen in der Mitte und einem ordinären Stahlbetonblock rechts einen Geröllberg links auf die Bühne gebracht. Diesem Berg nähern sich die Tänzer immer wieder, ein wenig eingeschüchtert, aber auch fasziniert, arbeiten sogar einige Male daran weiter, indem sie noch etwas Sand auf ihn werfen – er ist, wenn man so will, das Symbol ihres Lebens. Plötzlich sackt der Berg in sich zusammen, bis fast nichts mehr übrigbleibt. Es ist ein szenisches Symbol für die Vergänglichkeit des Seins, das Sterben – und genau davon handelt dieses Stück, dessen Titel Ascaresa in Giaquintos italienischer Heimat Nostalgie bedeutet. Am Anfang sitzt ein Tänzer traurig an einen Stahlbetonblock gelehnt. Er sinniert, er streift mit den Fingern die Konturen des Blocks nach, eines ganz gewöhnlichen Betonblocks, als wäre er eine Kostbarkeit, doch das, so kann man assoziieren, ist das Leben. Es besteht nun einmal aus gewöhnlichen Dingen, die durch unser Leben und unsere Erinnerung Bedeutung erhalten.
So sind denn auch die Auftritte der übrigen Tänzerinnen und Tänzer eine Art Reminiszenz an das Leben, an Begegnungen, Freundschaften, Beziehungen und deren Auseinanderdriften, es geht um Fragen nach Gemeinsamkeit und Fremdheit. Giaquinto gelingen dabei faszinierende und anrührende Bewegungen und Bewegungskombinationen zwischen den Tänzern, die immer wieder vereinzelt auftreten, als sei Gemeinsamkeit ein kostbares, weil seltenes Gut. Und wenn sich Paarungen ergeben, scheinen sie nicht von dieser Welt, wie bei Timoor Afshar und Anouk van der Weijde.
Doch führt Giaquinto danach sein Stück weiter, ohne dass diese Weiterführung nennenswert Neues bringen würde. Es wiederholen sich letztlich die aus der ersten Hälfte bereits bekannten Gesten für Abschied, Trennung, Verlust, und dieser abschließende Teil ist dafür zu lang, sodass er den wunderbar konzentrierten ersten Teil verwässert.
Ähnlich faszinierend und in sich geschlossen beginnt Vittoria Girellis neue Choreographie, auch bei ihr geht es um Präsenz und Abwesenheit, sogar noch sehr viel allgemeiner und philosophischer als bei Giaquinto. Vittoria Girelli bewegt sich mit ihrer neuen Choreographie am Rand von Sein und Nicht-Sein. „In Esisto“ heißt die Arbeit, das Programmheft bietet als Übersetzungshypothese ein „existieren in“ an, allerdings schwingt bei diesen zwei Wörtern auch das Gegenteil mit – „Inesisto“ – „Inexistenz“. So setzt auch der Anfang ganz neue Akzente. Üblicherweise beginnen Choreographien mit dem Auftritt von Tänzern, beim neuen Stück von Vittoria Girelli ist es eher eine Art Rückzug. Ein Tänzer rutscht rückwärts von einer die Bühne links begrenzenden hellen Wand zurück in die Bühnenmitte, vorsichtig, als traue er sich nicht, als habe er ein abschreckendes Erlebnis gehabt. Bewegt er sich zurück ins Leben oder mitten ins Nichts – Fragen, die auch bei den übrigen Tänzern des Stücks aufkommen können.
Vittoria Girelli, In Esisto: Tänzer: Timoor Afshar, Rocio Aleman © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Faszinierend, wie dabei, um nur ein Beispiel zu geben, die Körper von Rocio Aleman und Timoor Afshar zu einer körperlichen Gemeinsamkeit verschmelzen, ohne ihre Individualität aufzugeben.
Dieses Spiel von Existenz und Nicht-Existenz, von Leben und Tod wird unterstrichen durch die fulminante Bühne von A.J. Weissbard, der den Raum einzig durch Lichtwände gestaltet. Dabei werfen die tanzenden Körper nicht selten an der gegenüberliegenden Bühnenwand Schatten – ein Mit- und Gegeneinander von realer Welt und Schattenreich, von Lebensraum und Totenreich, und gelegentlich wird das Licht so gleißend hell, dass die realen Körper der Akteure bloße Schatten werden.
Schließlich bleiben Tänzer auf dem Boden liegen, reglos, wie tot unter einem schmalen blauen hellen Lichtstreifen – das hätte das Ende einer fulminanten tänzerisch-philosophischen Auseinandersetzung mit Sein und Nichtsein ergeben können. Doch dann erwachen die Körper zu neuem Leben. Zu immer lauter werdenden wummernden elektronischen Klängen greifen sie mit machtvollen Armbewegungen weit aus, doch ergibt das keineswegs ein neues „Kapitel“ in diesem Stück. Vittoria Girellis bis dahin so präzise konstruiertes Stück verliert sich ein Stück weit in Beliebigkeit.
Das lässt sich von dem Abschluss des Abends nicht behaupten, im Gegenteil. Fabio Adorisio schafft in seinem neuen Stück Lost Room durch leichte Variationen von Bewegungsabläufen zu Beginn und gegen Ende hin eine Art choreographische Klammer, die sein Stück zu einem Ganzen schweißt.
Fabio Adorisio, Lost Room. Tänzer: Matteo Miccini, Agnes Su © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Dabei geht es in seinem Stück äußerst bewegt und sehr dramatisch zu – um Beziehungen zwischen Partnern, Freunden, auch Feinden. Sogar eine Art Wettstreit der Geschlechter scheint sich anzudeuten, und die Damen sind dabei nicht selten auf der Gewinnerseite. Mit dramatisch-energischen Bewegungen fulminant ausagiert von Agnes Su, Mizuki Amemiya und Eva Holland-Nell bieten die Damen den Herren geradezu kämpferisch Paroli, die sich dagegen zu behaupten versuchen; David Moore, Adhonay Soares da Silva und Matteo Miccini gelingt da ein faszinierendes Schwanken zwischen kraftvollem Aufbegehren und subtilem Nachgeben.
Dennoch bricht auch diese Choreographie letztlich auseinander, und das liegt daran, dass Adorisio – eigentlich ein Vorzug guter Choreographie – genau der Musik folgt. Mit Rachmaninoff hat er einen Komponisten der konträren Ausdruckswelten gewählt. Auf der einen Seite die stupende Virtuosität des Pianisten Rachmaninoff – sie äußert sich in extrem rhythmischen, manchmal ruckhaften Bewegungen der Akteure -, auf der anderen das Erbe der Spätromantik mit Rachmaninoffs aufwühlenden Emotionen. So ganz freilich wollen diese beiden Bereiche bei Adorisio nicht zusammenpassen, auch dies letztlich eine Frage der dramaturgischen Struktur.
So hätten an diesem Abend grandiose Choreographien auf die Bühne kommen können, hätten sie nicht auf unterschiedliche Weise dramaturgische Schwächen. Auch kurze Choreographien bedürfen einer dramaturgischen Stringenz, vielleicht gerade die kurzen noch mehr als die langen.