Als Wassily Kandinsky sich Anfang des 20. Jahrhunderts in seiner Malerei und mehr noch in seiner Graphik von der Gegenständlichkeit entfernte und nur noch Linien, Farben und Formen als reines Ausdrucksmittel wählte, ging es ihm nicht um eine formale Kunst, vielmehr sah er darin die Befreiung zum Geistigen. Und mit seinem Almanach Der Blaue Reiter machte er deutlich, dass es ihm bei Kunst nicht nur um die bildende ging, denn er lud auch die Komponisten Arnold Schönberg und Alban Berg zur Mitwirkung ein, verstand selbst sein Malen als Komponieren. Damit traf er die Bestrebungen des später von ihm geförderten dreißig Jahre jüngeren Otto Nebel. Die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen widmet ihm eine umfassende Retrospektive: Zur Unzeit gegeigt.
Runen-Fahnen zur Runen-Fuge Unfeig, 1924/25 © Foto: Horst Simschek
Der Titel der Ausstellung führt in die Genese des Künstlers Otto Nebel ein, denn es ist der Titel eines Gedichts, und zunächst fühlte Nebel sich eher als Dichter, er verkehrte im Kreis um Herwarth Walden, in dessen Zeitschrift Sturm er expressionistische Texte schrieb. So wird der Besucher der Ausstellung in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen denn auch von Texten empfangen. Dem Antikriegsgedicht Zuginsfeld zum Beispiel, vor allem das Gedicht Unfeig, das mit den Zeilen beginnt: „Ein U, ein F, ein I“, alles in Blockschrift zu Papier gebracht. Die nüchternen Buchstaben jedoch genügten Nebel nicht, der daran litt, dass seine Zeit zu mechanisch, zu ungeistig geworden sei. Und so entwickelte er eine eigene Schrift, geheimnisvoll, weshalb er sie auch Runen nannte: Er erfand zu den Buchstaben Zeichen für die Form, aber auch für den Klang. So kam wieder alles zusammen – der Inhalt der durch Buchstaben gebildeten Wörter und die Musik der gesprochenen Sprache. Von da an war es nur noch ein Schritt zum reinen bildnerischen Künstler. Er selbst bezeichnete seine Malerei als Dichtung, als „Schwester“ seiner Wortkunst.
Von da an beschrieb er seine Gedanken und Gefühle und was er sah nicht mehr mit Worten, sondern mit Bildern. Seine Impressionen vom Karneval beispielsweise oder von seiner Reise durch Frankreich. Die Titel der Zeichnungen geben zunächst noch meist sehr genau an, was dargestellt ist. Da gibt es Gesichter von Menschen und Tieren mit geöffneten Mündern – die Würger und Fresser, eine andere Zeichnung zeigt einen Mann, der angestrengt nach links blickt, ergänzt durch bloße Augenpaare – der Titel: „Die Blicke schweifen“.
Aber bald schon gehen seine Bilder weit über das hinaus, was in den Bildtiteln angedeutet ist. Schon seine Zeichnungen zur Frankreichreise trugen bezeichnenderweise den Untertitel „Dichtung in Farbformen“. Nach einer Italienreise wurden seine „Städteporträts“ geradezu fast abstrakte Versuche, das Wesen der italienischen Stadt zu erfassen und wiederzugeben. Für Siena grundierte er das Blatt ockerbraun und zeichnete die Stadtarchitektur nur mit Linien ein. Ein in kühlem Blau gehaltenes Blatt zeigt nicht einen bestimmten Ort, sondern die Toscanische Stadt. Die Farben drücken Landschaftscharaktere aus, dafür entwickelte er einen regelrechten Farbenatlas. Wie bei seinen Runenbildern ging Nebel auch hier fast wissenschaftlich exakt vor, und doch entstehen dabei hochgradig poetische Bilder und symbolische Aussagen wie etwa die Türme der Hoffnung oder Arkadisches.
So ist es kein Wunder, dass er sich schließlich der Musik zuwandte, er hatte ja schon sein Runengedicht Fuge genannt. Die Musik kam ihm besonders entgegen, weil sie ihren geistigen Gehalt ganz unmittelbar ausdrückt, ohne Buchstaben oder Wörter. So entstehen atmosphärische Arbeiten wie Assez gai oder Allegramente, und immer wieder finden sich Synästhesien wie Mouvement bleu. Vielleicht am faszinierendsten ist sein äußerst filigran bewegtes Rotes Erklingen.
Begebenheiten im Lichtgelb, 1937 © Foto: Myriam Weber, Bern
Das alles ist hochgradig abstrakt. Dieser Hang zur Abstraktion hatte sich ja schon in seinen Bildern zur Frankreichreise in Form stark geometrisierter Figurendarstellungen bemerkbar gemacht. Schließlich arbeitete er ausschließlich abstrakt, das war, als er in die Schweiz übersiedelte. Neues kündigt sich an heißt ein frühes Bild dieser Phase, in der faszinierende Farb- und Formenkompositionen wie die Begebenheiten im Lichtgelb entstehen. Hier ist alles nur Emotion und Spiritualität. Dabei hätte er bleiben können, schließlich war das Geistige, das er in der Abstraktion ausdrückte, für ihn von Anfang an das Wesentliche.
Kathedrale, 1941 © Foto: Myriam Weber, Bern
Aber dann entdeckte er hierfür in der Welt um sich herum die idealen Vorbilder – Kirchen. Schon von einer Parisreise hatte er eine Zeichnung mitgebracht mit dem Titel Kirchen in großen Mengen. Jetzt widmete er sich in zahlreichen großformatigen Bildern dem Thema Dom – und konnte seinen Hang zur geometrischen Abstraktion ausleben. Faszinierend, wie er aus der an sich starren und steifen Geometrie Bewegung in die Innenräume bringt, wie er seine Bilder zwar aus Flächen zusammensetzt, dabei aber eine erstaunliche räumliche Tiefe erzielt. Hätte Otto Nebel nur diesen Bilderzyklus geschaffen, hätte er Anspruch auf Ruhm.
„‚Zur Unzeit gegeigt‘ Otto Nebel – Maler und Dichter“, Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen bis 19.1.2020. Katalog 359 Seiten 29 Euro