Ein Tisch mit Obst und einer Vase mit Blumen, perfekt realistisch gemalt – mit ihren Stillleben stellten die Künstler im 16. und 17. Jahrhundert ihre stupende technische Präzision mit Pinsel und Farbe unter Beweis. Täuschend echt sind die Äpfel gemalt, deutlich erkennbar die unterschiedlichen Blumenarten: ein Fest der Sinne und ein Loblied auf die Schönheit der Natur. Oft aber ist zugleich auch ein erhobener Zeigefinger mit im Spiel: Ein toter Fasan verweist auf das Ende des Lebens, ein Stillleben ist oft auch ein Memento Mori – und zugleich eine Aufforderung, das Leben zu genießen, ein Carpe Diem. Eine Ausstellung im Dominikanermuseum in Rottweil zeigt, dass dieses alte Genre auch im Zeitalter der perfekten Fotografie noch relevant ist.
Ein grüner Salat, genau identifizierbar als Kopfsalat – Dieter Krieg reihte sich ein in die Tradition des Stilllebens und porträtierte eindeutig definierbare Objekte. Zugegeben: Es sind Objekte des Alltags; statt der kostbaren Blumen und köstlichen Speisen auf den Stillleben der Niederländer des 17. Jahrhunderts widmete er sich den eher banalen Gegenständen. Das Stillleben des 20. Jahrhunderts ist eine Welt des Alltags, nicht des Festes. Doch das ist nicht das Einzige, was Kriegs Stillleben so zeitgemäß macht. Krieg porträtierte seine Gegenstände in riesigen Formaten, malte mit langem Pinsel auf Leinwände, die er auf dem Boden ausgebreitet hatte, und verzichtete auf feingliedrige Details. Seine Bilder sind geprägt von wildem Umgang mit Pinsel und Farbe, es ist eine fast rohe Malerei – und sie bewegt sich an der Grenze zwischen Gegenstand und Abstraktion, denn genau genommen und aus der Nähe betrachtet ist das, was man als Kopfsalat ausmachen kann, ein wildes Neben- und Übereinander unterschiedlicher grüner Pinselstriche, reine Malerei also. Dieter Krieg überführte das alte Genre in die Kunstwelt seiner Zeit und blieb zugleich doch auch den Konnotationen treu, die sich mit diesem Genre verbinden. Seine mit dicken Strichen porträtierten Alltagsgegenstände werden gerade durch die Pinselführung an die Grenze ihrer Auflösung geführt. Und auch motivisch griff er auf die alten Traditionen zurück. So malte er eine schräg abkippende rote Kerze, deren Flamme ausgegangen ist – das ist nichts anderes als ein Memento Mori unserer Tage.
Der Präzision der klassischen Stillleben kommt in unserer Gegenwart die Fotografie am nächsten, ist sie doch vorzüglich geeignet, Gegenstände naturgetreu abzubilden. Das hat Gerhard Langenfeld getan, allerdings nur auf den ersten Blick. Er hat eine abgeblühte Blume fotografiert, ein Memento Mori also auch hier. Neben die düster wirkende Fotografie hat er eine monochrome schwarze Fläche platziert: gegenständliche Darstellung und monochrome Abstraktion in einem. Mehr noch: Die schwarze Fläche, mit Autolack makellos auf Aluminium aufgetragen, diente ihm als Spiegel, in dem sich die abgeblühte Pflanze reflektierte. Was wie ein Foto einer Pflanze wirkt, ist in Wirklichkeit ihr Spiegelbild; Langenfeld spielt mit Realitätsebenen, nimmt der Fotografie ihren unmittelbaren Realitätsgehalt.
Ganz anders Angelika Flaig. Sie porträtiert nicht Natur, sie arbeitet mit Natur. Aus Samenständen von Löwenzahn bildet sie Rasterbilder. Das ist eine ruhige Kunst – stilles Leben eben –, zugleich aber auch tote Natur, denn aus den Samen werden nie mehr neue Pflanzen entstehen, und in den romanischen Sprachen heißt Stillleben ja auch „tote Natur“, nature morte, natura morta.
Am nächsten scheint Luzia Simons der flämischen Stilllebentradition zu stehen. Ihre Motive: Blumen, die mit einer Präzision und Brillanz porträtiert sind, wie sie die Vorläufer nicht besser hätten anstreben können. Simons erzielt fotografische Präzision, allerdings nicht mit dem Fotoapparat: Sie scannt die Pflanzen, ist ihnen dabei extrem nah und doch scheinen sie auf den Bildern einer geradezu hyperrealen, fremd anmutenden Welt anzugehören, die mit der unsrigen nichts gemein zu haben scheint. Das ist ein Fest der natürlichen Schönheit, das gleichzeitig fast unheimlich wirkt.
Der Dieter-Krieg-Schüler Axel Brandt porträtierte eine Glocke –
Symbol des Todes, des Endes allen Lebens. Doch damit nicht genug: Sie ist eindeutig schon von Rost überzogen, das Material selbst also ist dem Ende geweiht. Es ist ein Gemälde in der Tradition eines Dieter Krieg, mit dem Pinsel grob aufgetragen, und doch nähert sich Brandt zugleich auch wieder der alten Tradition der exakten Wiedergabe, allerdings auf seine Weise: An manchen Stellen hat er die braune Farbe so dick aufgetragen, dass sie rissig wurde, abzublättern droht wie der Rost auf der Glocke selbst: Die Farbe wird zum Material dessen, was sie darstellen soll.
Und noch einmal der Trompe l’oeuil-Effekt. Ottmar Hörl hat auf einem Sockel Orangen und zwei Gläser Milch platziert. Sie sind täuschend echt in Kunststoff nachgebildet, so täuschend echt, dass man mit dem Finger in die Milch tauchen möchte – und auf hartes Plastik stößt.
Das alles ist eindeutig Stillleben, natura morta – und zugleich Kunst von heute: ein altes Genre in der Gestaltungsweise unserer Zeit. Das Stillleben ist nicht tot, es führt nur ein anderes Leben.
„Natura Morta. Stillleben heute“, Dominikanermuseum Rottweil bis 4.12.2016