Angefangen hatte alles mit Waffen- und Goldschmieden. Sie rieben Ruß in die Muster, die sie in das Metall geritzt hatten, und druckten die Platten auf Papier – als Werbung für ihre handwerkliche Fertigkeit; die Radierung war erfunden. Mit Dürer und Rembrandt erlebte das Verfahren eine frühe künstlerische Blüte – und wird bis in unsere Gegenwart von Künstlern hoch geschätzt, auch von dem 1977 geborenen Wolfgang Neumann. Er freilich führt sie auf seine Weise in die Kunst der Gegenwart weiter – wie eine Ausstellung im Hospitalhof in Stuttgart zeigt.
Crloud, 2016 © VG Bild-Kunst Bonn 2016
Das Liniengeflecht auf den Bildern deutet in Richtung Druckgraphik, und der Eindruck ist durchaus nicht falsch, allerdings verwundern die Formate, denn Radierungen sind in der Regel von handlichem Format (allzu große Kupferplatten wären unhandlich und schwer); Neumann überrascht mit Arbeiten von mehreren Quadratmetern Größe, und auch der Farbträger seiner „Radierungen“ ist ungewöhnlich: nicht saugfähiges Papier, sondern Plastikplanen, wie man sie von Baugerüsten kennt oder großen Reklametafeln.
Doch während man handelsübliche Reklameposter meist aus der Ferne betrachtet – und dank der plakativen Darstellungsweise auch meist mit einem raschen Blick erfasst -, ziehen die Bilder von Neumann den Betrachter geradezu magisch an, denn er arbeitet nicht mit großen Farbflächen, sondern mit dem kleinen Strich – wie seine Vorgänger früherer Jahrhunderte auch. Denn was so plakativ wirkt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als altehrwürdige Radierkunst, wenn auch mit Mitteln unserer Tage. Neumann ritzt nicht in Metallplatten, sondern in durchsichtige Plastikscheiben; diese Scheiben färbt er auch nicht ein, wie bei dieser Technik üblich, sondern scannt sie als Grundlage für die weitere Arbeit am Computer. So bleibt der Charakter der Radierung erhalten – Figuren, Gegenstände, Räume aus lauter kleinen Strichen, Graphiken im besten Sinne des Wortes -, doch zugleich sind es auch Computergraphiken. Digitale Radierungen nennt Neumann das – und hat der alten Kunst ganz neue Dimensionen eröffnet, nicht nur von der schieren Größe her. Am Computer kann er mühelos collagieren, überblenden, Seiten verdrehen.
Das Resultat sind Bilder, bei denen man schon rein technisch aus dem Staunen nicht herauskommt. Ist die Farbwolke, die er unter dem Titel „Crloud“ in blaugrauen Farbschlieren über die Bildfläche verteilt hat, eine Pinselarbeit, ein Aquarell, oder eben doch eine kolorierte Radierung, denn am linken Rand finden sich in einer gelblichen Fläche jene kleinen Schraffuren, die für die Radierung so typisch sind.
Das Rätseln setzt sich auf der Ebene des Inhalts fort. „Séance“ heißt eine Arbeit – sie mutet altertümlich an mit der rostroten Farbe, in der die Motive dargestellt sind. Altmodisch gekleidete Herrschaften sitzen da an einem runden Tisch, in Gedanken versunken, und halten sich an den Händen – eine spiritistische Sitzung aus dem 19. Jahrhundert, wären da nicht die Zuschauer, die das geheimnisvolle Geschehen beäugen und alle Guy Fawkesmasken tragen, wie sie heutzutage auf der Straße bei Demonstrationen beobachtet werden können. Neumann führt das Gestern und das Heute auf solchen Bildern zu einer neuen Einheit zusammen.
Immer wieder meint man, auf Vertrautes zu stoßen – etwa auf zwei Hälften eines Gebissmodells, wie es Zahnärzte anzufertigen pflegen.
union.com, 2016 © VG Bild-Kunst Bonn 2016
Die beiden weißlichen Gipshälften haben sich in ein diffuses rötlichbraunes Farbgewölk verbissen – das sich bei näherer Betrachtung als Menschenansammlung herausstellt, genauer, als Zusammenkunft von Jesus und seinen Aposteln, die Leonardo da Vinci in seinem berühmten Wandgemälde dargestellt hat: Radierung, Überblendung und Aquarelltechnik verbinden sich zu einem gespenstisch anmutenden Bild, das gegenständliche Assoziationen zulässt und doch immer wieder in Abstraktion mündet.
Bei Neumanns Radierungen schwankt der Betrachter zwischen altmeisterlicher Technik und moderner Lebenswelt, zwischen hochmoderner Computertechnik und traditionellen Bildelementen. Perspektiven vermischen sich, extreme Nahsicht und große Fernsicht vereinen sich zu einem einzigen Bild. So begegnen sich in einem Bild zwei Menschen, reichen sich die Hand zum Gruß, und diesem Handschlag begegnet man auf dem ganzen Blatt, mal in extremer Nahsicht, mal nur angedeutet. Die hektische Bewegung unserer Großstädte wird collagiert mit altmodischen Räumen ärmlicher Behausungen. So gestaltete Neumann als Hintergrund für eine Graphik die Innenansicht einer chinesischen Fabrik, in der Handys hergestellt werden, darüber gelagert ist das stilisierte Bild unserer Großstadtstraßen, die bevölkert sind von jenen Menschen, die diese Handys täglich, stündlich, minütlich benutzen – ohne sich Gedanken über ihre Herkunft zu machen.
Solche Kombinationen unterschiedlichster Bildmotive findet sich auch in Neumanns Malerei, doch in seinen digitalen Radierungen wird die Collage zum Prinzip erhoben. Neumanns Bilder sind Abenteuer für das Auge – und eine Herausforderung für die Assoziationsfähigkeit des Betrachters, der Altes und Neues zugleich erfassen und deuten muss – alte Radierkunst und moderne Computertechnik.
„frizzant brisant. Digitale Radierungen von Wolfgang Neumann“, Hospitalhof Stuttgart bis 4.5.2016
Hierzu findet sich ein Film von Horst Simschek und mir auf Youtube